"So etwas wie Harvard haben wir in Deutschland gar nicht!"

Welche Rolle spielt die Digitalisierung für die künftige Qualität des Gesundheitssystems? Die renommierte Harvard Medical School bietet dazu das Zertifizierungsprogramm „Safety, Quality, Informatics and Leadership“ (SQIL) an. Prof. Dr. Andreas Schnitzbauer ist der erste deutsche Absolvent und berichtet von seinen Erfahrungen.

Insgesamt 91 Teilnehmer aus 20 Ländern auf sechs Kontinenten haben in diesem Jahr das SQIL-Programm der Harvard Medical School abgeschlossen. Die Graduation-Ceremony fand im altehrwürdigen Harvard Club in Boston statt. | privat

Herr Prof. Schnitzbauer, Sie sind stellvertretender Direktor der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie an der Uniklinik Frankfurt. Warum haben Sie sich entschieden, am SQIL-Programm der Harvard Medical School teilzunehmen?

Schnitzbauer: Ich hatte nach 15 Jahren im Beruf das Gefühl, auch mal wieder etwas für mich und meine Weiterentwicklung tun zu müssen. Das Programm der Harvard Medical School habe ich mir schon zwei Jahre vorher angesehen und fand es total spannend – aber als stellvertretender Klinikdirektor hatte ich dafür bisher einfach nicht die Zeit. Harvard hat einfach eine enorme Anziehungskraft. Und auch der Inhalt hat mich sehr interessiert. In Zusammenarbeit mit dem Controlling unserer Klinik habe ich mich auch schon vorher mit den wirtschaftlichen Faktoren des Klinikbetriebs und der Qualitätssicherung beschäftigt. Aber diese Fragen auf eine theoretische Basis runterzubrechen und dadurch später besser anwenden zu können – das fand ich extrem spannend. Deshalb habe ich mich schließlich entschieden, mich doch zu bewerben.

Wie läuft das Programm ab und was sind die Inhalte?

Schnitzbauer: Inhaltlich stand der Umgang mit den Veränderungen im Mittelpunkt, die uns in den nächsten Jahrzehnten erwarten: Es gab Einheiten, die sich mit den Themen Patientensicherheit, Qualitätsmanagement, aber auch dem großen Thema „Big Data“ und Digitalisierung beschäftigt haben. Außerdem gab es Leadership-Sitzungen, in denen Führungsqualitäten im Fokus standen. Vor allem ist das Programm sehr international: In meinem Jahrgang gab es 91 Teilnehmer aus 20 Ländern auf sechs Kontinenten – da arbeitet man mit ganz unterschiedlichen Menschen zusammen. Es gab drei Präsenzwochen in London, Shanghai und in Boston auf dem Harvard-Campus. Außerdem gab es insgesamt 15 Live-Webinare, an denen man teilnehmen musste, und mehr als 30 aufgezeichnete Vorlesungen. An aufwändigsten waren die drei Team-Präsentationen, bei denen wir zum Beispiel eine App fürs Gesundheitssystem gestaltet haben. Für das Zertifikat haben wir dann noch eine Abschlussarbeit und eine Online-Prüfung geschrieben.

Prof. Dr. Andreas Schnitzbauer (ganz links) konnte sich mit seinem Team über eine Auszeichnung als "bestes Team des Jahrgangs" freuen. | privat

Welche Rolle spielt das Thema Qualitätsmanagement in diesem Programm und warum ist das wichtig?

Schnitzbauer: Das Harvard-Programm deckt genau die Dinge ab, die unser Gesundheitssystem in den nächsten 15 bis 20 Jahren brauchen wird. In Deutschland gibt es etwas Entsprechendes nicht. In deutschen Kliniken ist es immer noch eine Art „Sträflingsarbeit“, wenn man sich um Qualitätsmanagement kümmern muss – gerade die Ärzte machen das nicht gern. Es gibt zwar die gesetzlichen Vorgaben – aber letztendlich müssen wir uns bei allem, was wir im Krankenhaus machen, überlegen, ob es gut ist. Und „gut“ bedeutet: Es muss den Patienten nützen. Ein Satz aus dem Programm, der mir hängengeblieben ist, war: „Alle, die nicht direkt mit den Patienten zu tun haben, müssen denen ‚dienen‘, die den Patienten helfen“. Das ist natürlich etwas pathetisch formuliert, aber es zeigt eben, dass die Patienten im Mittelpunkt stehen – und nicht die Gewinne und das Controlling.

Was läuft beim Qualitätsmanagement in Deutschland aus Ihrer Sicht oft falsch?

Schnitzbauer: In Deutschland sind wir oft nicht konsequent genug. Das gilt übrigens auch für alle anderen Länder – das zeigt eine aktuelle Analyse aus dem britischen Journal BMJ. Wenn ein Audit bevorsteht, ist man in den meisten Krankenhäusern ein paar Wochen lang unheimlich engagiert. Aber den Rest des Jahres dümpelt das Thema Qualitäts- und Sicherheitsmanagement so vor sich hin. Dabei geht das Thema alle etwas an, die im Krankenhaus arbeiten – vom Reinigungspersonal bis zum CEO. Wenn eine Putzfrau kein Schild aufstellt, dass der Boden frisch gewischt ist und deshalb jemand ausrutschen könnte, ist das eine Sicherheitsfrage. Und alle müssen auch verinnerlicht haben, dass es hier auf jeden einzelnen ankommt. Das ist gleichzeitig auch eine Aufforderung an alle, Dinge zu hinterfragen und Verbesserungen anzuregen – und eben nicht nur zu denken, dass dafür andere zuständig sind. Wenn das Qualitätsmanagement nur irgendwo in der Verwaltung angesiedelt ist, dann funktioniert das nicht.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung im SQIL-Programm?

Schnitzbauer: In Zukunft sollten wir viel mehr Tools und Apps nutzen, die uns die Arbeit erleichtern, weil man damit einfach große Datenmengen beherrschen kann. Ein Thema, das uns das ganze Jahr über beschäftigt hat, war beispielsweise die „Lernende Patientenakte“. Das geht schon ein bisschen in den Bereich der künstlichen Intelligenz hinein. Man muss die Akte natürlich entsprechend programmieren: Wir wollen ja letztendlich wissen, wie es dem Patienten geht. Die Akte kann uns aber auch regelmäßig Informationen liefern, die für uns wichtig sind – nicht nur über den individuellen Patienten, sondern über alle: Wie viele meiner Patienten haben beispielsweise gerade einen Harnwegsinfekt? Wie hoch ist meine Komplikationsrate? Das kann man den digitalen Systemen beibringen. Wir nutzen das aber aktuell in Deutschland noch viel zu wenig. In diesem Bereich haben wir jetzt einige neue Projekte angestoßen, die unsere Arbeit wahnsinnig erleichtern. Ich liebe meinen Beruf – aber diese Ideen haben mir noch mehr Lust darauf gemacht, wieder effektiver zu arbeiten. Dann bleibt mehr Zeit für das, was wirklich wichtig ist – und das sind die Patienten.

Arzt Amerika

Nachdem das Assistenzarztdasein in Frankreich und Deutschland ausprobiert wurde, ging Dr. Peter Niemann nach Amerika. Er schreibt in seinem Blog "Vom Arztdasein in Amerika" auf aerzteblatt.de über seine Ausbildung zum Internisten sowie der Zeit danach, aber auch über die Skurrilität eines Arztlebens in USA - dieses Mal über ein Vorstellunsggespräch in Harvard.

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Wie konkret bereiten Sie diese Inhalte auf die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte vor?

Schnitzbauer: Bei uns in Frankfurt wird beispielsweise gerade eine standardisierte Qualitäts-Definition für alle hessischen Krankenhäuser erstellt. Da kann ich mich mit diesem Wissen sehr gut einbringen. Intern in unserer Abteilung wollen wir ganz viel ändern: Wir wollen zum Beispiel auf einen Arztbrief reduzieren – aktuell gibt es in unserer elektronischen Patientenakte 15 verschiedene Möglichkeiten dafür. Außerdem machen wir inzwischen eine stringente elektronische Erhebung von Vorerkrankungen und der Gebrechlichkeit von Patienten. Das entwickeln wir immer weiter: Wir wollen zum Beispiel das System so programmieren, dass es aus den ICD-10-Codes, den OPS-Codes und der Dokumentation selbstständig herausrechnet, wie schwer der Patient erkrankt ist. So kann man Hochrisiko-Patienten besser identifizieren und deren Behandlung entsprechend anpassen. So etwas kann ganz konkret das Leben von Patienten verlängern – und das sollte das Ziel sein. Wichtig ist, dass die Menschen verstehen, wie so etwas grundsätzlich funktioniert. Dann kann man ähnliche Prinzipien in ganz unterschiedlichen Bereichen verwenden. Das ist ein kontinuierliches Arbeiten: Eine Publikation ist nicht der Abschluss eines Projekts, sondern der Impuls und Ideengeber für den nächsten Schritt.

Die Harvard Medical School ist eine der renommiertesten Fakultäten überhaupt. Was hat das für eine Bedeutung für das Programm?

Schnitzbauer: Ich muss Ihnen sagen, wenn ich einfach nur daran denke, stellen sich schon meine Haare auf (lacht). Ich habe an der TU München studiert, die sich ja auch als Elite-Universität bezeichnet. Aber so etwas wie Harvard haben wir in Deutschland gar nicht. Und auch, wenn wir „nur“ ein Certificate-Programme besucht haben – am Ende wird man dort verabschiedet mit „You are Harvard now“. Man wird ein Teil dieser Einrichtung – da sind sie dort stolz drauf, und auch für uns war es eine große Motivation. Dazu gehört auch die feierliche Graduation-Ceremony am Ende des Programms. Allerdings gibt es ein paar Punkte, bei denen ich mir gedacht habe: Darüber machen wir uns auch seit zehn Jahren Gedanken – und bei euch in Harvard funktioniert das genauso wenig. Das macht es dann auch wieder menschlich. Aber trotzdem ist es beeindruckend, wie die so ein Programm aufziehen. Wir wurden in Harvard von Professoren unterrichtet, die wirklich die besten der Welt sind. Es ist schon etwas Besonderes, dort zu studieren.

Für wen ist das Programm geeignet?

Schnitzbauer: Es gibt keine festen Vorgaben. Ich habe als Chirurg teilgenommen – aber bei mir im Team war zum Beispiel auch der Sekretär der First Lady von Puerto Rico. Man muss also nicht Mediziner sein. Es waren auch Controller oder IT-Spezialisten dabei. Das Alter ging von ca. 29 bis 55 Jahren – es ist also auch kein bestimmtes Karriere-Level Voraussetzung. Letztendlich ist das Programm etwas für jeden, der sich dafür interessiert – das kann man auch schon als Assistenzarzt machen. Man sollte aber auch Lust darauf haben, die Inhalte weiter zu transportieren. Man muss sich mit einem Anschreiben bewerben und beweisen, dass man ein aufrichtiges Interesse an den Themen hat und nicht nur auf das Harvard-Zertifikat scharf ist. Und dann wird man – mit etwas Glück – für das Programm ausgewählt. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass das ein anspruchsvolles Programm ist, das man nicht eben nebenher absolvieren kann.

Das Programm "Safety, Quality, Informatics and Leadership" ist ein einjähriges Zertifizierungsprogramm der Harvard Medical School.

Mehr Infos: https://postgraduateeducation.hms.harvard.edu

Was haben Sie für sich persönlich mitgenommen?

Schnitzbauer: Neben den Inhalten war für mich vor allem das Networking sehr wertvoll. Ich arbeite jetzt auch in einigen wissenschaftlichen Projekten mit Leuten zusammen, die ich sonst nie getroffen hätte – zum Beispiel mit dem Chef der Anästhesie aus einer Klinik in Kathmandu (Nepal). Dieses interdisziplinäre Netzwerk nimmt einem keiner mehr. Für mich war das im professionellen Bereich das Beste, was ich jemals gemacht habe. Ich glaube, dadurch hat sich für mich nochmal ein ganz neuer Blick auf das Mikromanagement eröffnet: Ich werde meinen Fokus in Zukunft stärker auf Dinge wie Sicherheit, Qualität oder den Umgang mit den Angehörigen richten – aber auch darauf, dass wir uns als Mitarbeiter für das Gesundheitssystem nicht kaputt machen lassen. Denn dann können wir uns auch nicht um die Patienten kümmern.

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