Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie: Arbeiten im Interdisziplinären Team

Das Zentrum für ambulante Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (ZAP) gehört zu den rund 720 Kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen in Deutschland, die sozialpsychiatrisch arbeiten.

Das ZAP gehört zu den rund 720 Kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen in Deutschland, die sozialpsychiatrisch arbeiten. | Foto: Shootingankauf/Fotolia.com

Neo gehört zum Team. Denn es braucht viele Helfer, um junge Patienten in ihrer psychischen, sozialen und biologischen Situation zu erfassen, ihre Entwicklungsressourcen zu stärken und ihnen so einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Eine Drei-Minuten-Medizin ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie nicht.

Wer an der Eingangstür der Praxisgemeinschaft Maria Rebmann & Dr. Gundolf Berg klingelt, der stutzt zunächst. Prominent hängt dort das Bild eines Hundes. Was steht darunter? Vielleicht „Hier wache ich?“ – schließlich befindet sich die Praxis im achten Stock eines der beiden Bonifatiustürme in der Mainzer Innenstadt, zentral gelegen in der Nähe des Bahnhofs. Aber der Hund sieht nett aus, er lacht irgendwie, gar nicht wie ein Wachhund – es ist ein Golden Retriever.

„Nein, ein Wachhund ist Neo nicht“, sagt Dr. med. Gundolf Berg, einer der beiden Praxisinhaber und lacht. Als Therapiehund ist er vielmehr im weitesten Sinne ein Teammitglied im Zentrum für ambulante Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, kurz ZAP.

Das ZAP gehört zu den rund 720 Kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen in Deutschland, die sozialpsychiatrisch arbeiten. „Bei Bedarf gestalten wir die Diagnostik und Therapie im Team mit qualifizierten pädagogischen Mitarbeitern“, erläutert Berg. Auf diese Weise werden die verschiedenen Aspekte bei der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr differenziert betrachtet und behandelt. Im ZAP arbeiten neben den Kinder- und Jugendpsychiatern und -psychotherapeuten auch Sozialpädagoginnen und verschiedene Therapeutinnen, zum Beispiel eine Kunsttherapeutin, eine Zirkustherapeutin und eine Fachkraft für tiergestützte Therapie.

Regelmäßiger Austausch im Team über die Patienten ist ein Grundpfeiler

Und wirklich: Auf dem Weg zu Bergs Besprechungs- und Behandlungszimmer geht es vorbei an Räumen mit Leinwänden und Farbtöpfen für die Kunsttherapie, an Besprechungszimmern für psychologische Testdiagnostiken und dort kommt auch ein Raum für die tiergestützte Therapie. In einer Ecke steht Neos großer Hundekorb.

Bergs Behandlungszimmer ist auf einer Seite fast vollständig verglast. Aus dem achten Stock des Bonifatiusturmes geht der Blick über den Bahnhof und weiter über ganz Mainz. „Die zentrale Lage ist wichtig, damit Jugendliche die Möglichkeit haben, auch aus dem Umland allein in die Praxis zu kommen“, erläutert Berg. Normalerweise kommen sie aber mit ihren Angehörigen.

So wie heute. An einem runden Tisch sitzt Philipp, neun Jahre, mit seiner Mutter. Berg nimmt sich für dieses Gespräch jetzt eine Stunde Zeit. Schnell wird deutlich: Philipp hat Schwierigkeiten in der Schule, die Noten sind schlecht, er hat oft Streit mit Lehrern und mit anderen Schülern. Auch im Fußballverein läuft es nicht mehr so recht, Philipp streitet sich mit anderen Jungen aus der Mannschaft und hat keine Lust mehr auf den Verein. Im Erstgespräch ist Philipp zurückgezogen und etwas mürrisch. Er ist einsilbig, aber nicht patzig, nach einiger Zeit geht er in die Spieleecke, um sich dort mit einer Ritterburg zu befassen. Im Gespräch mit der Mutter erfährt Berg, dass Philipp sich kaum mehr mit anderen Kindern trifft und nicht zu Geburtstagen eingeladen wird. Früher sei das besser gewesen, zu Kindergartenzeiten. Dort sei er immer sehr lebhaft und einer der lautesten gewesen. Im Verlauf des Gespräches zeigt sich auch: Die Mutter fühlt sich von ihrem Mann, Philipps Vater, nicht unterstützt. Er wiegelt ab und will mit den schulischen und sozialen Problemen seines Sohnes nichts zu tun haben. Auffällig ist: Der Junge kennt die Großeltern väterlicherseits gar nicht und hat auch keinen Kontakt zu den Geschwistern des Vaters. Zur Familie der Mutter besteht hingegen ein guter Kontakt.

Spielen, Malen, Basteln: Therapeutische Ansätze in Kinder- und Jugendpsychiatrie sind vielfältig

Die Mutter ist mit Philipp bei allen Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt gewesen. Philipp ist danach körperlich gesund, er war auch bislang nicht in Behandlung.

Im Gespräch mit Philipp und seiner Mutter und bei der Beobachtung des Kindes hat Berg sechs Achsen für die Befunderhebung im Kopf: klinisch-psychiatrische Syndrome, umschriebene Entwicklungsstörungen, das Intelligenzniveau, körperliche Symptomatik, aktuelle abnorme psychosoziale Umstände und schließlich eine globale Beurteilung der psychosozialen Anpassung. Sie helfen dabei, Philipp in seiner psychischen, sozialen, aber auch biologischen Situation möglichst umfassend zu verstehen.

Wie geht es nach dem Gespräch weiter? Bei Hinweisen auf eine körperliche Erkrankung, zum Beispiel eine Absencen-Epilepsie, ordnet Berg extern ein EEG, bei Bedarf auch EKG und Laboruntersuchungen an. „In Philipps Fall denken wir differenzialdiagnostisch an eine Aufmerksamkeitsstörung, eine Lese-Rechtschreib-Schwäche und auch an eine intellektuelle Überforderung“, erläutert der Kinderpsychiater. Aber auch eine kindliche Depression ist nicht auszuschließen.

Berg ordnet verschiedene psychologische standardisierte Tests an, um Philipps Probleme besser zu verstehen und sinnvoll behandeln zu können. Dazu gehören ein Test zur Beurteilung des Intelligenzniveaus und ein störungsspezifischer Fragebogen zur Aufmerksamkeitsstörung. Der Mutter gibt er einen Elternfragebogen mit, außerdem notiert er sich den Namen der Schule und von Philipps Lehrerin. Er wird sie später anrufen und auch mit ihr sprechen.

Die Tests nehmen Mitarbeiter in der Praxis vor. Philipp und seine Mutter erhalten dafür kurzfristig drei Termine in den nächsten ein bis zwei Wochen. „Bei den Tests ist nicht nur das reine Ergebnis wichtig, die Mitarbeiter müssen auch die Stimmung und das Verhalten des Kindes beobachten“, erläutert Berg.

Es vergehen zehn Tage, in denen aber viel geschieht: Philipp ist dreimal in der Praxis und trifft sich mit den Mitarbeitern zu verschiedenen Tests. Seine Mutter begleitet ihn, der Vater ist erwartungsgemäß nie dabei. Berg hat in dieser Zeit mit seinem Team über Philipp gesprochen, sie nach ihren Eindrücken gefragt und die Testergebnisse beurteilt. Auch ein Gespräch mit Philipps Lehrerin hat stattgefunden.

Gutes Arbeitsbündnis mit den Eltern ist entscheidend

Bei der Therapieplanung ist es entscheidend, ein gutes Arbeitsbündnis mit den Eltern – hier mit der Mutter von Philipp– zu schließen, ihr die Angst zu nehmen und konkrete Empfehlungen zu geben, was sie im Alltag tun sollte.

Heute ist Philipp mit seiner Mutter zum vierten Mal in der Praxis. Er kennt sich schon gut aus und marschiert wie selbstverständlich in Bergs Zimmer. Bei dem Gespräch ist Bergs Mitarbeiterin Miriam Kronbichler dabei. Die Sozialpädagogin ist Fachkraft für tiergestützte Therapie.

„Philipp leidet unter einer Aufmerksamkeitsstörung. Hinzu kommt eine isolierte Rechtschreibschwäche“, erläutert Berg im Gespräch. Seine Störung hat depressive Anteile, das Vollbild einer kindlichen Depression zeigt er aber nicht. Seine sozialen und schulischen Probleme belasten ihn aber sichtlich.

Diese Beurteilung macht der Mutter zunächst Angst. Während Philipp in der Ecke wieder mit der Ritterburg spielt, wehrt sie ab und meint, die Lehrerin dramatisiere die Situation. „Der Max ist doch noch viel schlimmer“, sagt sie.

Bei der Therapieplanung ist es jetzt entscheidend, ein gutes Arbeitsbündnis mit den Eltern – hier mit der Mutter – zu schließen, ihr die Angst zu nehmen und konkrete Empfehlungen zu geben, was sie im Alltag tun sollte. Daran orientiert sich die weitere Planung. Berg und Kronbichler nehmen sich daher viel Zeit und erläutern die nächsten Schritte. Bei Philipp stehen die sozialen Schwierigkeiten im Vordergrund, er erhält daher ein soziales Kompetenztraining mit dem Therapiehund Neo. Medikamente braucht Philipp nicht. Aber sie empfehlen der Mutter eine externe Rechtschreibschulung. Berg wird außerdem noch einmal mit der Lehrerin sprechen, damit sie bei der Notengebung Philipps Rechtschreibschwäche einbezieht.

Berg und Kronbichler unterbrechen Philipp in seinem Ritterspiel und erläutern auch ihm ausführlich und kindgerecht, wie es weitergeht. Er hat Vertrauen zu Berg und seinem Team gefasst und hört aufmerksam zu. Die Aussicht auf Termine mit Neo freut ihn sichtlich.

Philipp kommt jetzt einmal in der Woche in die Praxis. Zusammen mit zwei weiteren Kindern verbringt er eine Therapiestunde mit Kronbichler und Neo. Auf dem Programm stehen zum Beispiel Kooperationsspiele, bei denen die Kinder lernen, unter Anleitung gemeinsam Neo zu versorgen. Auch das Üben der Sensibilität ist wichtig: Wann braucht Neo Ruhe? In der tiergestützten Therapie geht es nicht in erster Linie um die Versorgung des Hundes. Neo ist vielmehr die Attraktion, die das Miteinander der Kinder möglich macht – der Katalysator für soziales Lernen.

Behandlung ist nicht nur erlebnisorientiert

Regelmäßig bespricht das Praxisteam gemeinsam Philipps Fortschritte. „Er hat noch große Schwierigkeiten, wenn es einmal nicht in erster Linie um Neo geht und er sich vor allem mit den beiden anderen Kindern auseinandersetzen muss“, erläutert Kronbichler.

Die Behandlung ist aber nicht nur erlebnisorientiert. In regelmäßigen Abständen spricht Berg mit Philipp und seiner Mutter über die Fortschritte des Jungen, seine Ängste und Probleme.

So auch bei Philipp: Das externe Rechtschreibtraining macht ihn in der Schule sicherer, die Einbindung der Lehrerin in den Therapieprozess nimmt zusätzlich Druck von ihm. Philipp wird auch im Miteinander zwischen den Schülern freier und kann das in den Therapiestunden mit Neo Gelernte immer wieder umsetzen. Zu seinem zehnten Geburtstag besuchen ihn sieben Kinder aus seiner Schulklasse!

„Ich mag es total, mit den Kindern zu arbeiten“, sagt Berg. „Es ist großartig, im Verlauf der gemeinsamen Arbeit immer wieder zu erleben, wie groß die Entwicklungspotenziale der Kinder sind“, schwärmt Berg. Der Blick des Kinder- und Jugendpsychiaters und -psychotherapeuten ist immer auf die positiven Möglichkeiten gerichtet, ressourcenorientiert. Er muss dabei komplexe soziale Situationen managen und schauen, wo die Kinder in ihrem Umfeld Stützung und Hilfe erfahren können. „Man findet eigentlich immer Ressourcen. Es ist sehr schön zu erleben, wie diese wirken und die Kinder sich positiv entwickeln“, so Berg.

WEITERBILDUNG KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE UND -PSYCHOTHERAPIE:

· Die Weiterbildung dauert fünf Jahre.

· Ein Jahr davon muss in der Pädiatrie oder der Neurologie oder der Psychiatrie/Psychotherapie oder der Psychosomatischen Medizin/Psychotherapie erfolgen. Sechs Monate in der Neuropädiatrie können angerechnet werden.

· 30 Monate der Weiterbildung können im ambulanten Bereich erfolgen. Das sind die Regelungen der Muster-Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer. Die detaillierte Weiterbildung vor Ort bestimmt die jeweils zuständige Landesärztekammer. Bitte dort informieren!

Quelle: Dieser Beitrag ist in Heft 4/2015 von Medizin Studieren, dem Magazin des Deutschen Ärzteblattes für Studierende der Medizin, S. 18f, erschienen. 

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