Erfahrungsbericht: Arzt für drei Wochen bei der Sea Watch 2 im Mittelmeer

Dann nähern wir uns dem Boot mit unserem Schiff und mit dem RIB schieben wir es an unsere Steuerbordseite heran. Wieder jubeln die Menschen und klatschen, sie lachen und zeigen ihre ausgelassene Freude über ihre Rettung. Nacheinander nehmen wir alle an Bord, 137 Menschen, darunter viele Frauen, zwei Kinder.

Fast alle sind jung, zwischen 20 und 30 Jahre alt und die meisten kommen aus Westafrika, aus Togo, Benin, Gambia, Ghana, Mali und aus Nigeria. Die meisten sind gesund, kräftig. Es ist ein Drama für diese Länder, dass gerade diese Menschen es sind, die fliehen, die sich ein Auskommen im Ausland suchen, in Europa. Denn sie sind es, auf die sich ein Aufschwung in diesen Ländern stützen muß, sie müßten mit ihrer Energie und Tatkraft, Aufgewecktheit und Intelligenz ihre Länder voranbringen.

Uns bedrückt es, wenn wir darüber nachdenken wie es für diese Menschen in den kommenden Wochen und Monaten sein wird, wenn ihre Aussicht auf das erhoffte neue  Leben in Europa auf die Realität in Flüchtlingslagern und -heimen, in Notunterkünften und Durchgangslagern treffen wird.

Niemand hat ernsthafte medizinische Probleme.

Wieder klagen einige über Kopf­schmerzen und Übelkeit und so verteilen wir Paracetamol- und Vomex-Tabletten. Wir versorgen kleinere Hautwunden. Eine junge Frau bricht vor uns zusammen, gleich nachdem wir sie zu uns an Bord genommen haben. Sie atmet unruhig, sie zittert. Wir helfen ihr auf die Liege in unserer Krankenstation. Sie heißt Joy und sie kommt aus Nigeria. Sie hat Angst und sie ist erschöpft. Wir beruhigen sie, erklären ihr, dass sie bei uns in Sicherheit ist und sie sich nicht zu fürchten braucht. Bald schläft sie ein.

Wie fast alle anderen, die wir an Bord genommen haben, ist auch sie barfuß, ihre Kleidung ist zerschlissen, hat Risse und ist durchnäßt. Sie hat nichts bei sich. Kein Gepäck, keine persönlichen Gegenstände, keine Dokumente. Sie ist allein. Auf ihrer Haut, im Gesicht, am Hals, an den Armen und Beinen klebt Sand. Oft müssen sich die Flüchtlinge in Libyen am Strand verstecken, bevor sie in die Boote steigen können. Manche legen sich flach auf den Sand, andere graben sich sogar ein. Die Angst, die sie in diese Momenten treibt, muss unerträglich sein.

Anisa kommt aus Togo. Auf einmal sitzt sie ebenfalls bei uns in der Krankenstation. Sie gibt Joy zu trinken, beruhigt sie, redet ihr gut zu. Sie spricht Englisch und Französisch und bietet uns an zu übersetzen. Unaufgefordert hilft sie uns, an die Menschen, die vom Boot steigen, Wasser zu verteilen, sie hilft weiteren Patienten auf dem Weg zur Krankenstation, zeigt uns die kleinen Hautwunden, übersetzt die Klagen der Patienten und übersetzt unsere Empfehlungen.

Wir haben getrennte Bereiche auf dem Schiff vorgesehen für die Frauen und Kinder und für die Männer. Ich begleite die Männer aufs Brückendeck. Die meisten von ihnen kennen sich erst seit wenigen Stunden, einige kennen sich vielleicht seit Tagen. Jetzt tanzen sie ausgelassen gemeinsam auf dem Brückendeck, sie jubeln, sie singen, sie umarmen sich. Es rührt mich, ihre Freunde zu sehen. Sie danken uns. Das beschämt mich.

Sie kommen aus verschiedenen Ländern, sie sprechen verschiedene Sprachen und doch bilden sie eine Gemeinschaft.

Sie gehen rücksichtsvoll miteinander um, sorgen sich umeinander. Die Frauen haben ihren Bereich auf dem Oberdeck hinter dem Schornstein, dort ist der am besten geschützte Außenbereich auf dem Schiff und sie können ein wenig Ruhe finden. Die beiden Kinder liegen jetzt auch dort auf dem Boden, schlafen. Der größere Junge heißt Emmanuel, seine kleine Schwester heißt Eibuko. Abiola, die Mutter, ist mit ihren beiden Kindern allein aus Nigeria bis hierher geflohen. Ich frage sie, wie lange sie unterwegs gewesen ist. Sie weiß es nicht, ist viel zu erschöpft einen Gedanken zu fassen.

Wir wissen, dass am Abend das Wetter wechseln wird. Stärkerer Wind zieht auf, die See wird rau. Wir können die Menschen unter diesen Bedingungen unmöglich sicher bei uns auf dem Boot behalten, daher sind wir erleichtert als wir später am Nachmittag auf das italienische Versorgungsschiff Asso Venticinque treffen und alle Menschen mit unseren RIBs transferieren können.

Danach werden wir gebeten, das Versorgungsschiff zur ‚Iuventa’ zu begleiten, die nun auch bei uns in der Nähe ist, und beim Transfer von den 270 Menschen, die die ‚Iuventa’ im Lauf des Tages aufgenommen hat, zu helfen. Bei zunehmendem Wellengang und Wind ist der Transport anstrengend, nicht ungefährlich und beschäftigt uns bis nach Mitternacht. Schließlich konnten alle Flüchtlinge, darunter wieder viele Frauen und Kinder, sicher an die ‚Asso Venticinque’ übergeben werden.

Dieser Bericht ist im Rahmen des Kurz-Blogs "Sea Watch 2" auf aerzteblatt.de erschienen. Alle Beiträge können hier nachgelesen werden.

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