Im Licht der aufgehenden Sonne wirkt alles um uns herum so ruhig, so friedlich, idyllisch. Seevögel fliegen auf der Jagd nach Fischen dicht über der Wasseroberfläche hinweg, schießen plötzlich ins Wasser herab und tauchen wenig später mit einem dicken Fang im Schnabel wieder auf. Vor unserem Bug, nicht weit entfernt, taucht der Rücken eines großen Fisches auf und verschwindet im selben Augenblick wieder. Wieder ein Delfin? Oder ein Thunfisch? Die Wasseroberfläche weitet sich in einer glatten Ebene rings um uns her bis an den Horizont, im Osten blinkend, glitzernd unter dem Schein der aufgehenden Sonne.
Es ist nur schwer vorstellbar, dass dies ein Ort ist, an dem so viel Leid geschieht, an dem so viele Menschen sterben.
Ich sitze schon seit 3 Uhr in der Nacht hier, da ich zur Wache auf der Brücke eingeteilt bin, wieder mit Friedrich. Wir erwarten, dass heute noch einmal Boote unterwegs sein werden, denn die Bedingungen sind optimal. Die See ist extrem ruhig, die Sicht ist gut, der Wind kommt von Süden, erleichtert es somit den Booten, vom Ufer aufs offene Meer zu gelangen. Außerdem wird das Wetter wechseln. Ab morgen wird es so windig sein und die Wellen dann so zunehmen, dass dann erst einmal für einige Tage keine Boote werden ablegen können.
Angespannt blicken wir auf den Radarbildschirm, um keine verdächtige Bewegung zu übersehen, um kein Signal eines Flüchtlingsboots zu verpassen. Wir gehen nach draußen, auf das Brückendeck, blicken am Horizont entlang, mit bloßem Auge und mit dem Fernglas auf der Suche nach Lichtern. Doch nichts. Auf dem Radar erkennen wir kein verdächtiges Zeichen, weder mit bloßem Auge noch mit dem Fernglas erblicken wir ein Licht oder die Kontur eines Bootes.
Wir liegen weiter im Osten als bisher, am Rand der 24 Seemeilen-Linie im Norden von Tripolis. MRCC hat uns gestern gebeten in dieser Gegend zu bleiben, denn wir sind hier das einzige Rettungsschiff in einem größeren Umkreis.
Wir verfolgen den Funkverkehr und können ein Gespräch zwischen der ‚Iuventa’ und der ‚Sea-Eye’ mithören, die mehrere Seemeilen westlich von uns auf der Suche nach einem Boot sind. MRCC hatte einen Notruf von einem Schlauchboot erhalten und die beiden Schiffe mit der Suche beauftragt. So läuft das häufig ab. Von den Schleusern bekommt einer der Flüchtenden auf dem Boot ein Turaya-Satellitentelefon und wird instruiert hierüber hinter der 12-Meilenzone MRCC anzurufen und um Hilfe zu bitten. Auf dem Display des Telefons werden die GPS-Koordinaten angezeigt, so dass der Anrufer seine genaue Position mitteilen kann. Bei der Rettung sind diese Telefone nie auffindbar. Vermutlich werden sie vor der Rettung ins Meer geworfen, da diejenigen, die es bei sich tragen, befürchten, als Schleuser angesehen zu werden.
Ähnlich ist es mit der Bedienung des Bootsmotors.
Wenn wir auf ein Boot treffen, ist der Motor meist ausgeschaltet, niemand bedient die Maschine.
Fordern wir die Insassen auf, den Motor erneut zu starten, um näher an unser Schiff heran zu fahren, gelingt es nie jemanden hierzu motivieren. Sicher befürchten die Insassen, dies sei ein Trick um herauszubekommen, wer auf dem Boot der Schleuser ist oder mit diesen zusammenarbeitet.
Die ‚Iuventa’ und die ‚Sea-Eye’ fahren auf einer Linie 15 Seemeilen vor der Küste Libyens im internationalen Gewässer. Die ‚Sea-Eye’ hat eine Wärmebildkamera, mit der sie versucht das Boot zu entdecken, die Crew der ‚Iuventa’ blickt mit Nachtsichtgeräten in die Dunkelheit hinein. Für lange Zeit ist das Funksignal unterbrochen, danach erfahren wir, dass offensichtlich ein Boot gefunden wurde, denn die ‚Iuventa’ nimmt dieses gerade an ihre Seite, um die Menschen auf ihr Schiff zu übernehmen.
Bei uns weiterhin keine verdächtigen Bewegungen. Erst Stunden später, am Morgen, meldet auch uns MRCC, dass es einen Notruf von einem Boot erhalten habe, das sich nur wenige Seemeilen westlich von uns befinde.
Zwei Stunden später sind wir vor Ort und finden dort das Schlauchboot schnell.
Es ist mäßig gefüllt mit geschätzt 120 oder 130 Menschen an Bord. Es ist ausreichend Platz, dass jeder im Innern einen Platz findet, niemand muss auf dem Schlauch sitzen und ein Bein nach außen Baumeln lassen.
Wir nähern uns mit dem RIB routiniert und erklären den Insassen unser Vorgehen. Die Stimmung im Boot ist außergewöhnlich gut. Die Menschen jubeln uns zu, sie klatschen und sie lachen. Sie sind so erleichtert, dass wir sie gefunden haben. Wir verteilen die Schwimmwesten, dann holen wir die beiden Kinder, die auf dem Boot sind, auf unser RIB und bringen sie an Bord der Sea-Watch, um sie beim Transfer der übrigen Personen nicht zu gefährden.
Wir geben den Kindern, einem fünfjährigen Jungen und seiner zweijährigen Schwester, zu trinken und gierig leeren sie ihre Flaschen. Sie sprechen nicht, sie weinen nicht, sie schauen uns nur geduldig an.