Ein Beispiel für diese Entwicklungen sind die sogenannten Wearables. Unter Wearables (wireless sensors) werden drahtlose Messgeräte verstanden, die in der Lage sind, diverse Parameter zu messen. So gibt es die Idee, den Zuckerspiegel der Tränenflüssigkeit über einen smarten Sensor in einer Kontaktlinse zu messen. Der in der Tränenflüssigkeit gemessene Wert soll an eine App gemeldet werden, die eine Korrelation mit dem Blutzuckerspiegel herstellt und eine Insulinpumpe steuert. Auch wenn noch nicht feststeht, ob der Prototyp (die «Google Linse») weiterentwickelt wird, zeigt die Idee sehr eindrücklich, in welche Richtung sich die digitale Forschung entwickelt. Neben Google treibt auch Apple eine technologisch höchst anspruchsvolle Entwicklung voran, um den Blutzuckerspiegel nicht-invasiv via Smartwatch zu messen. Mutmaßlich wird bereits die nächste Generation der Apple Watch (iWatch 7) mit einem Infrarot-basierten Blutanalyse-Sensor ausgestattet sein, um den Glucosespiegel zu erfassen.
Drahtlose und für onkologische Bedürfnisse akzeptable EKG Ableitungen können z.B. mit den Devices von «Alivecor» (www.alivecor.com) oder der «Apple Watch 4» durchgeführt werden, die bereits seit September 2018 von der FDA in den USA und auch in mehreren europäischen Ländern zugelassen ist. Damit lässt sich z.B. Vorhofflimmern diagnostizieren oder ausschließen [1]. Neuere Smartphones tragen auf ihrer Rückseite einen Sensor, der bei Berührung eines Fingers in der Lage ist, Blutdruck und Puls ziemlich exakt über kleinste Arteriolen der Fingerkuppe zu messen [2]. Auch ein Blutbildanalysegerät für zu Hause existiert schon (www.athelas.com), das in der Lage ist, in kürzester Zeit ein Differenzialblutbild zu bestimmen: Ein kleiner Bluttropfen aus der Fingerkuppe (ähnlich wie bei der Blutzuckerbestimmung) wird auf ein Spezialpapier aufgetragen und dieses in ein Messgerät geschoben, das kleiner ist als ein digitales Kommunikationsgerät wie «Alexa». Auch smarte Tabletten sind bereits auf dem Markt, die melden, wenn sie im Magen angekommen sind, quasi als digitale Adhärenz-Kontrolle. Ein Beispiel ist Aripiprazol (Abilify MyCite(R)), ein Psychopharmakon, das sehr regelmäßig eingenommen werden muss. In die Tablette wurde ein smarter Faden integriert, der bei Kontakt mit Magensäure ein schwaches elektromagnetisches Signal aussendet, das von einer App im Smartphone erkannt wird [3, 4]. Empfängt die App das Signal zu einem erwarteten Zeitpunkt, gilt die Tablette als korrekt eingenommen. Bleibt das Signal aber aus, dann schlägt die App «Alarm», indem sie z.B. den Wecker aktiviert oder automatisch Kontaktpersonen anruft. Auch in der onkologischen Pharmazie wird die Entwicklung von Oralia mit einer smarten Einnahmekontrolle diskutiert.
Telemedizin
Aktuell setzen die gesetzlichen Krankenversicherungen auf den schnellen Ausbau von Video-Sprechstunden. Man erwartet, dass in fünf Jahren jede 5. Behandlung per Videosprechstunde erfolgt (Vorstand GKV Spitzenverband, Januar 2020). Fernbehandlung (Telemedizin) kann insbesondere in ländlichen Regionen hilfreich werden. Aber auch unabhängig von der Region sind viele Nutzungsbereiche der Telemedizin denkbar, bei denen nicht zwingend der Besuch in einer Praxis oder Klinikambulanz notwendig ist. Als ein weiterer sinnvoller Anwendungsbereich für die Telemedizin dürfte sich die Behandlung von Patienten mit seltenen Erkrankungen herauskristallisieren, denn gerade für diese Patientengruppe ist der Weg zum nächstgelegenen Exzellenz-Zentrum oft weit und beschwerlich.
Im hausärztlichen Bereich dürften sich Videosprechstunden schnell durchsetzen, z.B. bei harmlosen Infekten, für die Einholung einer AU oder um die Notwendigkeit einer Überweisung zu klären. In der Onkologie ist die Kontrolle von kutanen Nebenwirkungen einer Therapie (z.B. Hand-Fuß-Syndrom oder immunvermittelte Dermatitis) ein Beispiel für die sinnvolle Nutzung telemedizinischer Abklärung, da die meisten Hautveränderungen über ein mit dem Smartphone angefertigtes Foto genauso gut diagnostiziert werden können wie bei einer direkten Konsultation. Für Ärztinnen und Ärzte ebenso wie für Pflegende in der Onkologie werden Videosprechstunden in der Zukunft eine Bereicherung sein, da damit die Versorgung der Patientinnen und Patienten zeitnäher und effizienter durchgeführt werden kann.



Ein weiterer Bereich mit rasch zunehmender Nutzung telemedizinischer Möglichkeiten dürfte die Diskussion radiologischer Bilder im Kollegenkreis sein, z.B. im Rahmen von online durchgeführten Tumor-Boards. Zudem werden radiologische Bilder künftig auch direkt in einer elektronischen Patientenakte zur Verfügung stehen. Erste Apps, die von Krankenkassen herausgegeben werden (z.B. «Vivy») lassen bereits heute die Speicherung von Bildern und Befunden zu. Im Bereich der Robotor-Chirurgie in urologischer oder gynäkologischer Onkologie werden schon routinemäßig telemedizinische Konsultationen intraoperativ bei speziellen Fragestellungen genutzt.
Zweifelsohne hat die Coronavirus-Pandemie die Akzeptanz für telemedizinische Anwendungen beschleunigt und führenden europäischen Telemedizin-Anbietern wie Kry und Babylon Health einen enormen Wachstumsschub beschert.
Big Data und Künstliche Intelligenz
Big Data – die Sammlung, Analyse und Nutzung immenser Datenmengen – wird die Onkologie sehr stark voranbringen. Die Entwicklung künstlicher Intelligenz wird insbesondere Diagnostikfächer wie Radiologie, Pathologie und Dermatologie in hohem Maße verändern. Es zeichnet sich ab, dass Algorithmen, lernende Computerprogramme, in Zukunft schneller und präziser diagnostizieren können als das menschliche Gehirn. Für das Potential künstlicher Intelligenz werden nahezu monatlich neue Belege publiziert. So wurde z.B. gezeigt, dass Algorithmen Mikrometastasen von Mammakarzinomen in axillären Lymphknoten mindestens genauso gut erkennen können wie Pathologen [5]. Ebenso wurde dokumentiert, dass Künstliche Intelligenz in der Lage ist, Areale mit MSI high in Gewebeschnitten zu erkennen [6] oder dass sie in der Lage ist, verdächtige Areale im Prostata-MRT ähnlich gut zu erkennen wie Radiologen [7]. Es ist absehbar, dass die Befunde von Schnittbilduntersuchungen wie CT oder MRT künftig mehr und mehr von Algorithmen erstellt werden [8]. Zebra Medical Vision als einer der Vorreiter in diesem Feld hat bereits mehrere von der FDA genehmigte Produkte auf den Markt gebracht, die basierend auf künstlicher Intelligenz Radiologen bei der Diagnose verschiedener Erkrankungen (wie Osteoporose, Brustkrebs) unterstützen.
Ebenso dürfte das Hautkrebsscreening schon bald von Smartphone-Kameras und angeschlossenen Algorithmen bewerkstelligt werden können: «Lesions learnt» [9]. In rascher Entwicklung befinden sich auch lernende App-Programme, die aus eingegebenen anamnestischen Angaben mit zunehmend höherer Treffsicherheit Verdachtsdiagnosen stellen (z.B. www.ada.com). Die Nutzung der über solche Tools erzeugten Daten ist jedoch derzeit Gegenstand datenschutzrechtlicher und medizinethischer Diskussionen. Wenn diese grundlegenden Fragen geklärt sind, dürften in Zukunft Patienten z.B. zu Hause oder im Wartezimmer gebeten werden, vor dem Arztkontakt ihre Symptome in eine App einzugeben, was eine Vorsortierung der Probleme und damit eine gezieltere und effizientere Behandlung ermöglicht.
Mit «Big Data» sind aber nicht nur die beschriebenen lernenden Computerprogramme gemeint. Die ungeheuren Mengen von klinischen und molekular-genetischen Daten ermöglichen eine immer präzisere Einteilung der Tumorerkrankungen in diverse Subgruppen, die eine zunehmend molekular gesteuerte und immer stärker individualisierte Therapie nach sich ziehen werden. Letztlich dürfte in der Verknüpfung von molekularem Wissen und lernenden Algorithmen die Zukunft der onkologischen Diagnostik und Therapiesteuerung liegen.
Digitales Follow Up
Ein weiteres Feld, auf dem sich digitale Ansätze für die Onkologie abzeichnen, ist die digitale Verlaufskontrolle unter einer Tumortherapie. Die Sinnhaftigkeit einer Implementierung von elektronisch erhobenen Daten zum patient reported outcome (ePRO) wurde durch zahlreiche Arbeitsgruppen publiziert [10]. Durch die Arbeiten von Denis et al. 2016 [11]und Basch et al. 2017 [12] ist darüber hinaus klar, dass digitale Tools einen hohen Stellenwert beim so genannten Follow Up entfalten können. In der von Basch et al. durchgeführten Studie wurde deutlich, dass eine regelmäßige präzise online Abfrage von Symptomen und Nebenwirkungen für die Patienten von Vorteil sein kann: In einer Studie mit ca. 1000 Patienten mit verschiedenen Krebserkrankungen und unterschiedlichen Therapien erhielt die eine Hälfte ein «klassisches follow up» mit einem fest terminierten Besuch in der onkologischen Einrichtung alle 8–12 Wochen für die üblichen Kontrolluntersuchungen. Die andere Hälfte der Studienteilnehmer erhielt keinen festen Termin, sondern nur einmal pro Woche eine E-Mail mit einem Link zu einer Plattform, auf der man sich einloggen musste. Auf dieser Plattform wurden den Patientinnen und Patienten jede Woche 12 Fragen gestellt, die zu ihrer jeweiligen Therapie passten (z.B. Fragen nach typischen Nebenwirkungen oder nach tumorbedingten Symptomen). Die Antworten wurden von onkologischen Pflegern und Ärzten gecheckt. Wenn alles im grünen Bereich war, wurde nichts unternommen und der Patient bekam eine Woche später wieder 12 Fragen gestellt. Sobald jedoch eine Antwort zu verzeichnen war, die auf eine Nebenwirkung, eine Komplikation oder einen Progress hinzudeuten schien, wurden die betreffenden Patienten sofort einbestellt und es wurde interveniert. Interessanterweise hatte die Gruppe mit der digitalen Überwachung nur Vorteile gegenüber der Gruppe mit der klassischen, fest terminierten ärztlichen Kontrolle: Ihre Lebensqualität war besser, es waren seltener Notfallinterventionen nötig, und es war sogar ein Überlebensvorteil der digital überwachten Patientinnen und Patienten nachweisbar. Die Überprüfung und Umsetzung dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse erfolgt in Deutschland z.Z. mit verschiedenen Tools, u.a. mit der «Cankado» App, einem digitalen Tagebuch für Krebspatienten, die als Medizinprodukt für die Erfassung von Symptomen, Adhärenz und Lebensqualität sowie zum Therapiemanagement genutzt werden kann und in verschiedenen onkologischen Studien eingesetzt wird [13]. Weitere, ähnliche Tools sind «Kaiku Health» oder «Babylon Health».
Die Beispiele zeigen, welche faszinierenden digitalen Chancen sich für die Onkologie abzeichnen. Unabdingbar ist, dass die neuen digitalen Tools Zertifizierungsprozesse durchlaufen und in Studien validiert werden, d.h. ihre Nützlichkeit und Sicherheit unter Beweis stellen. Eine erste onkologische «App auf Rezept» dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit aus diesem Bereich stammen.
Digitale Wissensvermittlung und Wissensmanagement
Besonders spürbar ist die Digitalisierung bereits jetzt im Bereich der Wissensvermittlung und des Wissensmanagements. Eine digitale Verfügbarkeit des Wissens ist die wichtigste Voraussetzung für eine zeitgemäße Onkologie. Mit der Entwicklung von Smartphones und Tablets hat sich seit etwa einem Jahrzehnt ein beträchtlicher Teil der Internetnutzung kontinuierlich von der klassischen Website auf Apps verlagert.
Hauptunterschied zwischen kommerziellen und nicht-kommerziellen Anbietern ist, dass die Apps von kommerziellen Anbietern i.d.R. aufwändiger programmiert und verlinkt sind. Obwohl industriell unterstützt, haben auch die kommerziellen Anbieter den Anspruch akademische Tools zu sein, produktneutral zu informieren, den aktuellen Stand des Wissens in modernem App-Design abzubilden sowie relevante nationale und internationale Leitlinien zu berücksichtigen.
Verschiedene Angebote sind z.Z. in Entwicklung, Beispiele sind die App «EasyOncology» oder die Apps von «onkowissen.de». «Easy Oncology» bietet eine professionelle Unterstützung bei Therapieentscheidungen für erfahrene Therapeuten, «onkowissen.de» setzt auf einen eher edukativen Ansatz. Nach dem derzeitigen Entwicklungsstand ergänzen sich die Inhalte beider Tools. Die Angebote bereiten den Stand des Wissens und die zur Verfügung stehenden diagnostischen und therapeutischen Optionen so auf, dass sie mühelos und zu jeder Zeit auf mobilen Endgeräten verfügbar sind.
Auch klassische Leitlinienportale wie «Onkopedia» oder die «S3 Leitlinien der AWMF» werden bereits in App-Form herausgegeben, so dass sie auch auf mobilen Endgeräten gelesen werden können. Entscheidend ist für alle Angebote, dass sie ständig aktuell gehalten werden. Ergebnisse wegweisender Publikationen oder Highlights von Weltkongressen sollten so zeitnah wie möglich auch in den Apps verfügbar sein. onkowissen.de hat z.B. als zusätzlichen Service Berichterstattungen von relevanten Weltkongressen auf der Partnerplattform onkowissen.tv etabliert. Die dort angeboten Kurzvideos sind auch über die Apps verfügbar, ebenso wird regelmäßig auf wegweisende Publikationen oder gesundheitspolitische Entscheidungen hingewiesen und die Nutzer werden im Falle von Neuigkeiten über entsprechende ICONs informiert.
Die Nutzung von Spracheingabesystemen analog Alexa oder Siri sowie die Integration von Chatbots für Frage-Antwort-Dialoge werden in naher Zukunft sicher auch bei der Bereitstellung des onkologischen Wissens in Apps eine Rolle spielen.
Nutzungsanalysen zeigen, dass Apps offenbar anders genutzt werden als klassische Websites: Während letztere eher in den Abendstunden und an Wochenenden aufgerufen werden, erfolgt die Nutzung von Apps auf mobilen Endgeräten deutlich häufiger während der Sprechstunden- bzw. Visitenzeiten. Die durchschnittliche Verweildauer bei einzelnen Kapiteln ist etwas kürzer, die Zahl der Wiederkehrer dafür aber deutlich höher. Auch tagesaktuelle Ereignisse, z.B. die Zulassung eines neuen Medikamentes oder die Veröffentlichung einer Nutzenbewertung wirken sich erkennbar auf die Nutzung der Apps aus, weil an diesen Tagen verstärkt schnell auffindbare Informationen zu den jeweiligen Substanzen gesucht werden. Diese messbaren Trends sowie die Downloadzahlen signalisieren, dass offenbar ein Bedarf nach digitaler Wissensvermittlung besteht. Eine wachsende Bedeutung dürften auch in-App-Angebote für eine CME-Zertifizierung erlangen. In den Apps von onkowissen.de werden seit Ende 2019 neben den edukativen Kapiteln auch CMETools angeboten, über die man digitale Prüfungen absolvieren und CME-Punkte generieren kann. Erste Zertifizierungen einer Landesärztekammer liegen vor, so dass im Falle einer bestandenen Prüfung über die digital eingegebene EFN-Nummer entsprechende CME-Punkte automatisch gutgeschrieben werden.
Disclosure Statement
F. Overkamp ist Geschäftsführender Gesellschafter der onkowissen.de GmbH Würzburg
Literatur
1. Perez MV et al.: NEJM 2019; 381:1909–1917
2. Chandrasekhar A, et al.: Sci Transl Med. 2018 Mar 7;10(431):eaap8674.
3. Kopelowicz A et al.: Neuropsychiatr Dis Treat. 2017 Oct 19;13:2641–2651.
4. Fowler JC et al.: Neuropsychiatr Dis Treat. 2021 Feb 12;17:483–492.
5. Ehteshami Bejnordi B et al.: JAMA. 2017 Dec 12;318(22):2199–2210.
6. Kather JN et al.: Nat Med. 2019 Jul;25(7):1054–1056.
7 Belfiore MP et al.: Radiol Med. 2020 May;125(5):500–504.
8. Allen B Jr et al.: J Am Coll Radiol. 2019 Sep;16(9 Pt A):1179–1189.
9. Esteva A et al.: Nature. 2017 Feb 2;542(7639):115–118.
10. Wallwiener M et al.: Geburtshilfe Frauenheilkd. 2017 Aug;77(8):870–78.
11. Denis Fet al.: J. Clin. Oncol. 34(18 Suppl.),
12. Basch E et al.: J. Clin. Oncol. 34(6), 557–565 (2016).
13. Eggersmann, Harbeck, Schinkoethe & Riese DOI: 10.2217/bmt-2017–0005
Der Experte:
Friedrich Overkamp (im Bild), Emre Basar,
OncoConsult Overkamp GmbH, Berlin
Kontaktadresse:
Dr. med. Friedrich Overkamp,
overkamp@onkowissen.de
Ein Beitrag von Kompass Dermatol 2021;9:152–163