Eigentlich ist der Samstagmorgen nach einem Abendspiel ein ruhiger Tag. Doch heute ist das anders. Während das Team von Hertha-Trainer Pal Dardai lockere Auslaufrunden auf dem Trainingsgelände am Olympiastadion dreht, läuft Schleicher über die Gänge des Berliner Virchow-Klinikums. Torjäger Vedad Ibisevic muss dort wegen einer Gesichtsfraktur behandelt werden. Er ist beim Spiel gegen Hannover 96 mit einem Gegenspieler zusammengeprallt. Der Verdacht: Fraktur der linken Kieferhöhle.
Hektischer Bundesliga-Samstag
Doch damit nicht genug. Ein Kontrolleur der Welt-Anti-Doping-Agentur hat sich an diesem Sonnentag im April unter die Zaungäste beim Training gesellt. Er will eine unangekündigte Dopingkontrolle bei der Hertha durchführen. Bundesliga-Routine. Auf seinem Zettel steht der Name Ibisevic. Ausgerechnet. Trotz der akuten Verletzung muss der Stürmer die Urinprobe abgeben. An Ort und Stelle, in der Kieferorthopädie im Krankenhaus, der Dopingkontrolleur eilt dorthin. Schleicher ist deshalb ein gefragter Mann an diesem Morgen. Hat Ibisevic genug getrunken? Welche Medikamente hat er bekommen? Doch der Teamarzt erträgt den hektischen Samstag mit stoischer Gelassenheit. „Auch nach 18 Jahren erlebt man noch außergewöhnliche Situationen“, kommentiert er trocken. Und: „Hektik gewöhnt man sich in diesem Job sehr schnell ab.“
Fast zu schön, um wahr zu sein
Bereits mit 36 Jahren hat sich Schleicher der Hertha verschrieben. Zum Job des Teamarztes kam er, weil er zur richtigen Zeit am richtigen Ort war: in einer orthopädischen Gemeinschaftspraxis im Berliner Bezirk Spandau, unweit der Heimat der Berliner Kicker. Der Verein suchte damals, in der Saison 1997/1998, einen neuen Mannschaftsarzt für die sportmedizinische Betreuung des Kaders. Es gab bereits Verbindungen in die Praxis, und als in dem vierköpfigen Ärzteteam die Frage aufkam, wer den Job übernehmen wird, fiel die Wahl auf den jungen Kollegen Schleicher. Für den gebürtigen Hannoveraner, seit jeher fußballinteressiert, war das fast zu schön, um wahr zu sein. Bereits während seiner Facharztausbildung in der Orthopädie der Universitätsklinik Freiburg hatte er die Vision, Profifußballer zu betreuen. „Ich war damals so oft ich konnte als Zuschauer im Dreisamstadion des SC Freiburg“, erinnert er sich. „Zwei Kollegen und ich hatten uns sogar bemüht, dort die medizinische Betreuung zu übernehmen, es ist uns aber nicht gelungen.“
Mit der Hertha um die Welt
In Berlin gelang dafür dann ziemlich schnell ziemlich viel. Denn mit Hertha ging es für Schleicher um die Welt. Die Berliner waren nach langer Abstinenz gerade in die 1. Bundesliga aufgestiegen – und starteten durch. Schon in der zweiten Saison nach dem Aufstieg schafften sie die Qualifikation für die Champions League, bislang das erste und einzige Mal, dass sich die alte Dame Hertha auf diesem Parkett zeigen durfte. „Das war natürlich auch für mich faszinierend, weil in Metropolen wie Barcelona, Mailand und Istanbul gespielt wurde“, blickt Schleicher auf die Anfänge zurück, und es ist zu spüren, dass es gute Bilder sind, die ihm in den Kopf kommen.
Doch damals wurde auch schnell klar, was sich bis heute bewahrheitet hat: Für das spannende Leben des Teamarztes zahlt man einen Preis.
Seit 18 Jahren betreut Ulrich Schleicher die Profifußballer von Hertha BSC
Schleichers Alltag ist fast genauso getaktet wie das Leben eines Profis. Bundesliga, Wettbewerbe, Trainingslager: Der Orthopäde ist mit dabei, wo und wann immer die Spieler auf einen Stadionrasen auflaufen. Neben der Spielbegleitung gibt es für den Mediziner zwei Pflichttermine im regulären Trainingsbetrieb: das Abschlusstraining vor jedem Spiel und das Auslaufen am Tag danach. Zwei-Meter-Mann Schleicher versorgt dann im Behandlungszimmer auf dem Hertha-Gelände die großen und kleinen Blessuren der Kicker. Beendet ist der Hertha-Dienst damit aber nicht. Denn: Auch wenn Schleicher gerade keinen verstauchten Fuß bandagiert oder neben den Auswechselspielern auf der Betreuerbank sitzt, muss er für Spieler, Trainer, Teammanager und die Physiotherapeuten aus seinem medizinischen Team erreichbar sein. Quasi rund um die Uhr. „Eine Erreichbarkeit am Telefon ist immer gegeben. Das geht nicht anders.“
Zweitleben: Die Praxis bleibt Haupteinnahmequelle
Besonders knifflig kann diese Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit dann werden, wenn Schleicher sein anderes ärztliches Leben lebt. Nämlich das eines ganz regulären, niedergelassenen Orthopäden. Denn mit dem Fußballjob ist die Arbeit für den 55-Jährigen, den bei Hertha alle nur „Uli“ rufen, nicht getan. Gemeinsam mit seinem Bruder Gert, er ist Teamarzt der Basketballer von Alba Berlin, und einem weiteren Kollegen, praktiziert Schleicher in seiner Privatpraxis im Berliner Westen. Privat deshalb, weil sich bereits nach wenigen Jahren als Teamarzt herausstellte, dass es „neben der Betreuung eines Profikaders schwierig ist, seine Dienste in der Praxis zu vollrichten.“ Schon 2003 gab Schleicher seine Kassenzulassung zurück.
Berlin-Zehlendorf, Clayallee, 2. Etage: Dick auftragen ist Schleichers Sache nicht. In der Praxis finden sich nur dezente Spuren des Hertha-Engagements. In Schleichers Sprechzimmer fällt ein eingerahmtes blau-weißes Trikot, auf dem die Spieler unterschrieben haben, ins Auge. Ein Geschenk zum 50. Geburtstag. An einer anderen Wand hängen Schwarz-Weiß-Fotos von Hertha-Teams aus der Vergangenheit. Ansonsten, typisch Arztpraxis: viel Praxisweiß, viele Räume, schön viel Licht.
Bei jedem Training ist auch der Teamarzt dabei
Auch in der eigenen Praxis hat es die Taktung für Schleicher in sich: Montag und Dienstag sind seine langen Praxistage, dann arbeitet er den ganzen Tag. Dienstag sowie Donnerstagvormittag sind feste OP-Blöcke terminiert. Der Freitag ist ein Hertha-Praxis-Mix-Tag: Bis Mittag ist Arbeit in der Praxis angesagt, ab Nachmittag steht das Training bei der Hertha auf dem Programm. Wenn ein Auswärtsspiel ansteht, geht es danach direkt in den Flieger. Raum für eine Auszeit von der Hertha und der Praxis? Mittwoch- und Donnerstagnachmittag. Vom Wochenende bleibt in der Regel nur der Sonntagnachmittag. Ein nicht alltägliches Arbeitspensum, auch nicht für einen Mediziner. Doch Schleicher klagt nicht. Im Gegenteil: „Der Vorteil meines Jobs ist, dass er mir sehr viel Spaß macht. Das erleichtert es sehr“, sagt er.
Doch Schleicher betont, dass die Praxis auch finanziell wichtig für ihn ist. „Auch wenn man im Vergleich zu anderen Sportarten im Profifußball natürlich eine Art Aufwandsentschädigung bekommt, bleibt die Praxis meine Haupteinnahmequelle.“ Im weiteren Verlauf des Gesprächs muss er schmunzeln, denn: „Es wird immer gerne argumentiert, dass das Renommee und die Bekanntheit eines Arztes steigen, der als Teamarzt tätig ist. Das ist sicherlich auch so. Das Problem ist nur: Um den Bekanntheitsgrad nutzen zu können, müssen sie auch präsent sein und in der Praxis arbeiten können.“ Da hake das Prinzip dann manchmal.
Als Arzt sitzt man manchmal zwischen den Stühlen
Zu Schleichers größten Herausforderungen gehört es, Spieler durch die Zeit schwerer Verletzungen zu steuern und die schwierige, stets drängende Frage zu beantworten: Wann ist der Spieler wieder fit? „Es gibt im Profifußball immer wieder Muskelverletzungen, die nicht so ausheilen, wie man sich das wünscht. Normalerweise würde man sagen, man muss der Sache Zeit geben, aber diese Zeit ist nicht da“, sagt Schleicher. Als Arzt sitze er dann manchmal zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite gilt es für ihn, das Interesse des Trainers und des Vereins zu wahren, auf der anderen Seite die Gesundheit des Spielers zu schützen.
Seinen Job interpretiert er so, sich im Zweifelsfall auch einmal vor einen Spieler zu stellen. „Der Druck auf die Spieler ist enorm. Wenn Trainer, Berater, der Manager oder die Medien auf ihn zukommen, um zu fragen, ob er wieder fit ist, muss man auch schon mal dazwischen gehen und klar sagen, nein, ist er nicht. Es ist aus medizinischer Sicht zu riskant.“ Dieses Dazwischen-Grätschen hat der Arzt erst lernen müssen. Gerade zu Beginn seiner Karriere habe auch er sich dem großen Druck, der im Profigeschäft herrsche, manchmal gebeugt, räumt Schleicher offen ein. Er habe in seiner Karriere schon „bitteres Lehrgeld“ bezahlt, weil er Spieler zu früh wieder aufs Feld gelassen hat und dadurch Verletzungen wieder aufbrachen.