„Kürzlich verließ ein 90jähriger Patient mit seinem Rollator zu Fuß unser Haus – und das nach einem komplizierten Oberschenkelhalsbruch. Zum Abschied winkte er dem Team und mir sogar noch zu“, erzählt Nicole Backes, die Chefärztin der Geriatrie des Städtischen Klinikums Solingen. Für sie sind das ganz emotionale Momente. Überhaupt ist die erfahrene Medizinerin überzeugt: „Altersmedizin ist das positivste Fach neben der Geburtshilfe.“
Wieder Mountainbike fahren
Die Herausforderung der Disziplin Altersmedizin, die für Patienten ab 65 entwickelt wurde, betrifft oft chronisch kranke und multimorbide Menschen. Haben sie beispielsweise einen Unfall, besteht ein erhöhter Rehabilitationsaufwand. Backes schildert einen typischen Fall: „Wenn jemand eingeliefert wird, der 72 Jahre alt und Diabetiker ist, kommt oft Hypertonie und vielleicht noch eine Herzinsuffizienz dazu. Ist nach einem Sturz jetzt unglücklich die Hüfte gebrochen, kommt also viel zusammen.“ Aber egal, wie die unterschiedlichen Voraussetzungen sind: Das Ziel der Altersmedizin ist immer, eine möglichst große Lebensqualität für die betagten Patientinnen und Patienten zu erreichen. Die Bandbreite ist hierbei groß. Für manche kann das sein, wieder Mountainbike zu fahren, für andere, allein zum Waschbecken gehen zu können und – vor allem – wieder nach Hause zu kommen.
Versorgungsauftrag wird größer
Die Erkenntnis, dass alte Menschen andere Bedürfnisse haben als junge, ist nicht neu. Sie gewinnt aber durch die aktuellen Entwicklungen in Deutschland mächtig an Relevanz. Laut dem Statistischen Bundesamt lag der Anteil der über 65-Jährigen 1991 bei 15 Prozent, 2021 aber schon bei 22 Prozent. Hochbetagte über 85 gab es 1991 etwa 1,2 Millionen, 2021 waren es bereits 2,6 Millionen – Tendenz weiter steigend. Diese demografische Entwicklung kennt auch die Politik. Backes erläutert: „Wir haben den neuen Landeskrankenhausplan NRW, in dem der Geriatrie ein ganz besonderer Schlüssel zugebilligt wird. Altersmedizin ist eines der wenigen Fachgebiete, dass in Zukunft mehr Versorgungsauftrag bekommt, als wir es jetzt haben.“
Welche Vorteile bietet die Geriatrie?
Jüngere Menschen bleiben meistens nicht lange im Krankenhaus. Bei den Seniorinnen und Senioren ist das oft anders. Das Konzept ist die geriatrische Komplexbehandlung. Das heißt: mindestens zwei Wochen Behandlungszeit und ein großes Therapieangebot. Das hilft den Patientinnen und Patienten natürlich, hat aber auch für Ärztinnen und Ärzte Vorteile: In der Geriatrie hat man einfach mehr Zeit, eine therapeutische Maßnahme zu beurteilen. Backes gibt ein Beispiel: „Ein Kardiologe auf einer anderen Station bemerkt Bluthochdruck, gibt ein Medikament und entlässt den Patienten. Danach muss der Hausarzt die weitere Einstellung vornehmen. Wir machen das auch, aber wir haben immerhin drei oder vier Tage, um zu schauen, ob das Medikament vertragen wird. Ob es richtig wirkt, oder der Blutdruck vielleicht viel zu schnell sinkt.“
Zudem hat die Mindestbehandlungszeit noch einen anderen Vorteil für Ärztinnen und Ärzte: „Der ‚normale‘ Internist spricht bei der Visite zumeist nur kurz mit den Kranken. Ich bitte meine Patienten fast immer, sich an die Bettkante zu setzten oder etwas zu trinken und beobachte sie dabei. Dadurch kann ich ihre Motorik prüfen und entscheiden, ob mehr Therapie nötig ist. Nach diesen Gesprächen weiß ich dann auch, ob meine Patienten zuhause einen Teppich haben, über den sie stolpern könnten, oder eine Katze, die ihnen Lebensfreude schenkt. Das kriegen Kolleginnen und Kollegen auf anderen Stationen oft nicht mit. Und: Es macht meine Arbeit befriedigend, dass ich nicht nur Sachen anschiebe, sondern auch mal Ergebnisse sehe.“
Nichts für Einzelkämpfer
Einige Medizinerinnen und Mediziner sehen in der intensiven Arbeit mit Demenzkranken allerdings einen Nachteil der Altersmedizin. Das hat jedoch viel mit der eigenen Einstellung zu tun. Backes erzählt: „Als Arzt oder Ärztin kann man von einem an Demenz Erkrankten genervt sein, man kann aber auch die eigene Haltung gegenüber so einem betroffenen Menschen ändern. Es ist eine Krankheit wie Herzinfarkt und Beinbruch auch. Nichts wird besser, wenn wir auf den Betroffenen herumhacken, sie können nichts dafür.“ Die Belastungen des Personals werden zudem erleichtert, weil man sich viel austauscht. Jeden Morgen findet ein Meeting mit dem gesamten Team statt, in dem jede Verhaltensauffälligkeit der Patientinnen und Patienten besprochen wird. Im geriatrischen Team sind folgende Berufsgruppen vereint: spezialisierte Pflege, Physio- und Ergotherapie, Logopädie, Psychologie, der Sozialdienst und häufig noch die Seelsorge. Backes resümiert: „Wir sind keine Einzelkämpfer, sondern Teamplayer. Keiner ist den schwierigen Aspekten des Berufs allein ausgesetzt, unsere Erfolge gehören immer allen.“
Darüber hinaus hat sich die Zusammenarbeit von Unfallchirurgie und Geriatrie in der Alterstraumatologie allgemein bereits etabliert. Die erfahrene Internistin führt weiter aus: „Die nächsten, die immer mehr mit der Altersmedizin zusammenarbeiten wollen, sind die Hämato-Onkologen, denn auch die Krebspatienten werden zunehmend älter. Das bedeutet, dass keine Altersgrenze mehr benannt werden kann, bis wann therapiert wird“ Hier wird die Geriatrie immer wichtiger für die fachliche Einschätzung, was therapeutisch für den alten Patienten noch machbar ist. „Diese Entscheidungen werden so zunehmend objektiviert und validiert“, so die Expertin.
Was muss man mitbringen?
Für Geriater und Geriaterinnen wird eine Facharzt-Ausbildung in den Bereichen Innere Medizin, Neurologie oder Allgemeinmedizin vorausgesetzt. Darauf folgt eine 18-monatige Zusatzweiterbildung. Mitzubringen sind Teamfähigkeit und – auch interessant – die Akzeptanz einer flachen Hierarchie. Backes betont: „Ich stehe zwar formal an der Spitze, aber ich brauche einen Draht zu jeder Reinigungskraft, denn die kriegt zum Beispiel mit, was der Patient in den Mülleimer wirft. Auch das kann für mich eine relevante Information sein.“ Zudem muss man sehr kommunikativ sein, zum Beispiel im Austausch mit Angehörigen.
Backes selbst begann ihre Laufbahn mit einer Ausbildung zur Krankenschwester. Danach studierte sie Medizin, kam während ihrer Ausbildung zur Internistin in die Geriatrie und wusste schon nach vier Wochen, dass es „ihr Ding“ sei.
Gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Heute setzt sie sich engagiert für mehr Nachwuchs ein, und fordert, bei Altersmedizin nie an ein mit einem Arzt oder einer Ärztin besetztes Altersheim zu denken. „Wir sind keine „Medizin Light“, sondern machen Vollpowermedizin. Ich schicke auch 93-jährige in eine Spezial-Reha, wenn es Sinn macht.“ Sie weiß, dass Geriatrie nicht das beste Image hat, gibt aber zu bedenken: „Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass im Krankenhaus viele junge Menschen liegen.“ Denn die werden häufig ambulant behandelt. Auch im Wartezimmer der niedergelassenen Praxis sitzen vor allem „Oldies“.
„Ich würde mir wünschen, dass sich viele Ärztinnen und Ärzte die Geriatrie einfach mal anschauen. Sie werden eine hochqualifizierte und sehr befriedigende Arbeit kennenlernen. Hinzu kommt, vielleicht das wichtigste Argument: eine gute Vereinbarkeit mit der Familie,“ schildert die dreifache Mutter die Lage. Auch Teilzeitarbeit ist üblich. Sogar mit guten Aufstiegschancen: Ihr Leitender Oberarzt-Kollege hat eine Teilzeitstelle.
Ein Halbtagsjob von 8-12 Uhr ist in ihrer Abteilung allerdings kaum möglich. Was geht, ist eine Woche arbeiten und dann die nächste frei haben. Backes fügt hinzu: „Unsere Assistenzärztinnen und -ärzte können ziemlich pünktlich gehen, wir haben nicht viele Überstunden.“ Mit Blick auf die Zukunft betont die engagierte Ärztin: „Wer sich für die Geriatrie entscheidet, wird immer eine Stelle bekommen und die Karrierechancen sind nicht nur gut, sondern exzellent.“
Die Expertin
Nicole Backes studierte nach einer Ausbildung zur Krankenschwester Medizin. Heute ist sie Internistin und Fachärztin für Innere Medizin, Geriatrie, Notfallmedizin, Ernährungsmedizin und Ärztliche Wundexpertin ICW. Sie arbeitet als Chefärztin der Geriatrie des Städtischen Klinikums Solingen.
Bild: © Städtisches Klinikum Solingen