Vor einigen Jahren sorgte der Work-Life-Balance-Ansatz für Furore: Die Mitarbeiter und Führungskräfte sollten sich ihrer jeweiligen Lebensbereiche bewusst werden und sie in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander setzen. Unter dem Stichwort Life-Leadership wurde dafür plädiert, mithilfe von Selbstmanagementstrategien die Bereiche „Gesundheit“, „Familie“, „Arbeit“ und „Sinn“ auszubalancieren. Das Problem dabei: Arbeit und Leben wurden als Pole verstanden, die sich diametral gegenüberstehen.
Arbeit und Leben sind keine Gegensätze
Work-Life-Balance verfestigt den künstlichen Gegensatz zwischen den Lebensbereichen Arbeit und Leben. Schon der Begriff Work-Life-Balance sei „semantischer Unsinn“, meint der Coach Markus Mayer. Es gehe nicht darum, ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben zu finden. „Wichtiger ist die Balance zwischen Tun und Sein – und zwar in jedem Lebensbereich.“ Arbeit und Leben zu trennen hieße, dass Arbeit außerhalb des Lebens stattfinde. Mayer kritisiert, dass die Arbeit für den Minuspol stehe und als Belastung definiert werde, die als Energieräuber die Ressourcen eines Menschen auffresse. Das Private hingegen fungiere als Pluspol und werde als Inspirationsquelle und Fundament der Weiterentwicklung gesehen.
Das Konzept des Work-Life-Blending hingegen macht Schluss mit der Entgegensetzung der Pole Leben und Arbeit. Stefanie Demann belegt in ihrem Buch „Selbstcoaching für Führungskräfte“, dass die Trennlinie zwischen den Bereichen immer mehr aufgelöst werde und dies von vielen Menschen auch so gewollt sei, insbesondere von den jungen und hochqualifizierten Mitarbeitern. Menschen, die ihr Leben als Selbstcoacher in die eigenen Hände nehmen, suchen nach Möglichkeiten, das Berufliche in das Privatleben zu integrieren und das Privat-Persönliche in den beruflichen Kontext einzubetten.
Für Ärzte heißt das: Anstatt eine Balance von Arbeit und Leben herstellen zu wollen, vermischen sie die beiden Bereiche sinnvoll – das ist Work-Life-Blending.
Selbstcoacher sind geradezu erpicht darauf, auch während der Arbeit Spaß und Freude zu haben. Andererseits erwarten sie nicht, dass es im privaten Bereich immer nur eitel Sonnenschein gibt. Für sie ist es normal, die tolle Idee für das nächste Ärztemeeting während des Joggens zu haben und zu Hause zu notieren und weiterzuspinnen. Und es stellt kein Problem für sie dar, während der Arbeitszeit die Tochter per WhatsApp bei den Hausaufgaben zu unterstützen.
Stefanie Demann betont: „Selbstcoacher betrachten die Arbeit nicht als fremdbestimmtes Tun gegen Bezahlung, sondern als einen wichtigen Baustein für ein mit Sinn erfülltes Leben.“ Gerade junge Ärztinnen und Ärzte wollen sich nicht mehr vorschreiben lassen, wann und wie sie ihre Arbeit tun. Sie fokussieren sich auf Ergebnisse – und der Weg dorthin darf durchaus abwechslungsreich und spannend sein und sogar Spaß machen.
Auch die Kliniken profitieren
Natürlich müssen dabei die Arbeitgeber mitspielen. Die Realisierung des Work-Life-Blending stößt an Grenzen, wenn Praxis und Klinik den Mix nicht gestatten wollen oder ermöglichen können. Doch wahrscheinlich wird der Trend zum Blend nicht aufzuhalten sein, weil es gerade für die jüngeren Leute, die mit den modernen Kommunikationsmedien aufgewachsen sind, zu den Selbstverständlichkeiten gehört, Privates-Persönliches und Berufliches zu vermischen.



Die Verantwortlichen in den Kliniken sollten bedenken: Mitarbeiter, die ständig darüber nachdenken müssen, wie sie Arbeit und Leben verknüpfen und mit „einem Ohr“ immer bei der Familie sind, verlieren die Konzentration auf den Patientenkontakt und verbrauchen Energie, die den eigentlichen Arbeitsprozessen entzogen wird. Zudem bauen sie Vorbehalte gegenüber dem Arbeitgeber auf – im schlimmsten Fall stürzen sie frustriert in ein Demotivationsloch. Und das kann nicht im Sinn der Kliniken sein.
Stefanie Demann wendet den Gedanken ins Positive, wenn sie sagt: „Wer Work-Life-Blending gestattet, trägt zur Motivation der Ärzte bei.“ Und diese belohnen die Chance, den Blend zu verwirklichen, indem sie Außergewöhnliches leisten – und dabei genau wissen, dass ihnen so die Gelegenheit eröffnet wird, sich im Job zu entfalten und zugleich privat weiterzuentwickeln. So profitieren alle Beteiligten.
Bewusstseinswandel ist Voraussetzung
Work-Life-Blending setzt einen Bewusstseinswandel voraus, in dessen Gefolge die Mauer zwischen Arbeit und (Privat-)Leben immer unschärfer und schließlich aufgehoben wird. Dies wird ohne eine gesellschaftliche Diskussion nicht funktionieren, an der sich die Ärzte beteiligen sollten.
Was aber kann ein Arzt heute schon tun, um das Konzept zu verwirklichen? Falls sich dies mit den Rahmenbedingungen, die von Klinik oder Praxis vorgegeben werden, vereinbaren lässt, fragt sich der Arzt immer wieder, ob sein Berufsleben auch dazu beiträgt, dass er seine persönlich-privaten Prioritäten und Ziele durchsetzen und erreichen kann. Mit anderen Worten: „Als Selbstcoacher reflektiert er regelmäßig seine Prioritäten und legt Maßnahmen zur Umsetzung und Zielerreichung fest“, so Stefanie Demann.
Dazu erlernt der Arzt die selten vorkommende Fähigkeit, auch einmal mit aller Entschiedenheit Nein zu sagen, wobei es klug ist, dieses Nein zu begründen und in Alternativen zu denken. Wenn ein Arzt eine Zusatzaufgabe übernehmen soll, dies aber nicht möchte, sagt er zwar Nein, überlegt jedoch zugleich, ob es einen „dritten Weg“ gibt: „Leider kann ich dies nicht selbst übernehmen, aber ich schlage vor ...“
Work-Life-Blending erfordert ein Umdenken auf vielen Ebenen und von allen Beteiligten. Die Praxen und Kliniken sollten erkennen, dass es auch Vorteile für sie hat, wenn sie den Ärzten gestatten, den Blend zu kreieren und das Privatleben in das Berufsleben hinüberschwappen zu lassen. Und die Ärzte sollten individuell festlegen, was der Blend für sie persönlich bedeutet. Sie dürfen die neuen Freiheiten nicht ausnutzen, sondern sollten sie kreativ nutzen.