Es ist 10 Uhr an einem kalten Wintermorgen. Auf dem Gelände der Berliner Charité herrscht nicht nur Hochbetrieb auf den einzelnen Stationen und in den Lehrsälen. Auch am Lernzentrum dominieren ein straffes Tempo und rege Geschäftigkeit: Vor dem Eingang kümmern sich Rettungskräfte der Feuerwehr um einen geriatrischen Patienten, der nach einem Fahrradsturz über Schmerzen in der Hüfte und im Nacken klagt. Seine Schwerhörigkeit erschwert die Kommunikation, zudem wirkt er stark verwirrt. Im Gebäude versorgen Ärzte, Pflegekräfte und Notfallsanitäter einen Patienten, der mit starken Bauchschmerzen und instabilem Kreislauf aus einer Hausarztpraxis abgeholt wurde. Im Raum nebenan bemüht sich ein weiteres Team um einen 22-Jährigen, der auf dem Fußballplatz kollabiert ist und reanimiert werden muss. Die Mediziner haben nicht nur mit dem jungen Mann zu tun, sondern müssen sich auch um einen Angehörigen kümmern, der seiner Verzweiflung lautstark Luft macht. Trotz der Widrigkeiten ist das Helferteam konzentriert.
Auf den ersten Blick zeigen sich dramatische Situationen aus dem Alltag einer Notaufnahme.
Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass die zum Teil noch sehr jungen Beteiligten Hilfestellung erhalten: Umstehende Instruktoren geben ihnen Informationen über ihre Patienten und teilen ihnen mit, wenn sich am Zustand der Betroffenen etwas ändert. Die „Notfälle“ sind Teil eines Simulationstrainings, das die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Medizinstudierenden, Pflegekräften und Notfallsanitäternschulen und ein Verständnis für die Abläufe an verschiedenen Enden der Notfallversorgung schaffen soll. Das zunächst auf ein Jahr angelegte Projekt mit dem Titel IN-PRO-SIM© (Interprofessionelles Simulationstraining) wurde gemeinsam von Mareen Machner von der Charité Gesundheitsakademie, Dr. med. Dorothea Eisenmannvom Lernzentrum der Charité –Universitätsmedizin Berlin und Dr. André Baumann von der Berliner Feuerwehr initiiert. Machner, Wirtschaftspädagogin und Leiterin der Fachweiterbildung Notfallpflege, weiß aus ihrer eigenen langjährigen Berufspraxis als Pflegekraft, wie wichtig eine interprofessionelle Zusammenarbeit ist: „In so einem Hochrisikobereich wie der Notaufnahme arbeiten zum Teil Ad-hoc-Teams miteinander, die sich kaum kennen. Da klappt die Kommunikation nicht immer auf Anhieb, gerade auch bei der Übergabe. Um diese Prozesse zu optimieren und Versorgungszeiten zu verkürzen, wollten wir die Präklinik mit ins Boot holen.“ Unterstützung für ihr Vorhaben fand sie bei Dr. André Baumann, Leiter der Berliner Feuerwehr- und Rettungsdienst Akademie: „Wir haben täglich mit den Notaufnahmen zu tun. Da ist es einfach wichtig, dass man sich kennt und einschätzen kann, um Reibungsverluste bei den Patienten zu vermeiden.
“So liegt heute kein 76-Jähriger auf der Trage, sondern ein Simulationspatient, der den Verunglückten einschließlich Verwirrtheit und Tremor mimt. Bei dem reanimationspflichtigen Fußballer handelt es sich um eine Simulationspuppe und deren verzweifelter „Angehöriger“ wird von einem Auszubildenden der Feuerwehr gespielt. Das allerdings so glaubhaft, dass sich Vorbeigehende auf dem Charité-Gelände erkundigen, ob sie Hilfe holen sollen.
Vier Trainingssituationen durchlaufen die Teilnehmenden an diesem dritten von insgesamt sechs Terminen.
Das erste Treffen fand im September 2016 statt und diente als Pilotierung: „Wir wollten sehen, wie die Teilnehmer aufgestellt sind, welche Erwartungen und Kompetenzen sie bezogen auf das Schnittstellenmanagement haben und wie wir unsere Trainings aufbauen müssen“, so Machner, die die Simulationstrainings wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Im Verlauf des Projekts werden die Beteiligten in vier Kompetenzbereichen geschult. Einer davon ist die Kommunikation mit den übrigen Beteiligten. Das beginnt mit der Versorgung am Unfallort, geht über den Transport bis hin zur Übergabe in der Rettungsstelle und der ärztlichen Versorgung. Welche Absprachen finden im eigenen Team statt und welche Informationen geben Notfallsanitäter an die Pflegekräfte und diese wiederum an die Ärzte weiter? Auch bei der Feuerwehr liegt seit 2014 mit der Umstellung der Ausbildung vom Rettungsassistenten zum Notfallsanitäter mehr Gewicht auf der Kommunikation. Baumann: „Wir haben einfach sehr viel mit alten Patienten, Kindern, aber auch mit Menschen mit Behinderungen zu tun. Da braucht es bestimmte soziale und kommunikative Skills, die wir im Rahmen der neuen Ausbildung trainieren.“ Die übrigen Kompetenzbereiche, die durch IN-PRO-SIM© geschult werden, umfassen methodische Fähigkeiten und soziale und personale Kompetenzen: Wird bereits am Unfallort ein Notarzt hinzugerufen oder muss der Patient nach der Erstversorgung direkt in die Klinik? Wie funktionieren die Mikroteams miteinander und welche Synergien gibt es im erweiterten interprofessionellen Team? All diese Aspekte werden im Vorfeld von Machner und ihren Kollegen besprochen und in die unterschiedlichen Szenarien eingeflochten.
Neben den kompetenzbasierten Inhalten ist das Debriefing ein wesentlicher Teil der Trainings:
Die einzelnen Trainingssituationen werden strukturiert nachbereitet. Es gibt ein gezieltes Feedback. „Damit schaffen wir bei den Teilnehmern ein Bewusstsein und eine Perspektive für die anderen Versorgungsbereiche“, so Machner. Auch Fehler soll das Training vermeiden helfen: „Es gibt immer wieder Momente, in denen man sich zwingen muss, Menschen nicht automatisch zu beurteilen, also beispielsweise einen bewusstlosen Obdachlosen nicht als Alkoholiker abzustempeln, sondern in erster Linie die Hilfebedürftigkeit zu erkennen und danach zu handeln“, betont Baumann. Trainieren und sich und das Team immer wieder zu hinterfragen – das sei Sinn sowohl der Simulationsübungen als auch der Feedbackrunden.
Neben Notfallsanitätern der Feuerwehr im ersten Ausbildungsjahr nehmen Pflegekräfte aus der Fachweiterbildung zur Notfallpflege und Medizinstudierende im zehnten Fachsemester teil. Die schnittstellenübergreifende Charakteristik des Projekts spiegelt sich nicht nur in den Auszubildenden wider: „Mir war wichtig, dass auch wir als Koordinatoren und Begleiter einen Grade-Skill-Mix haben und verschiedene Professionen vertreten“, beschreibt Machner die übrigen Beteiligten. Diese sind Instruktoren der Charité und der Feuerwehr sowie Coaches und Beobachter. Insgesamt kommen pro Termin etwa 50 Personen zusammen. Erste Entwicklungsschritte hin zu einer koordinierten interprofessionellen Zusammenarbeit zeigten sich schon nach den ersten Terminen und trotz dazwischenliegender Pause. War die Kommunikation zwischen Feuerwehr und Pflegekräften bei der Übergabe anfangs noch zurückhaltend, so funktioniert sie heute bei allen Teams deutlich besser. Wichtige Informationen werden ausgetauscht und die präklinischen Teams bleiben zum Teil noch während der klinischen Notfallversorgung und unterstützen, beispielsweise beider Herzdruckmassage im Reanimationsszenario. Diese Vernetzung der Professionen ist auch das, was der Masterplan Medizinstudium2020 fordert. Und so üben sich die IN-PRO-SIM©-Beteiligten bereits in dem, was künftig auf die Berufsgruppen zukommen wird: eine aufeinander und aneinander ausgerichtete Berufspraxis, die mehr als nur fachliche Kompetenzen verlangt.
Am Ende dieses Tages blicken die angehenden Notfallkräfte zwar nicht auf reale Ernstfälle zurück – das Kunstblut kann abgewaschen werden und die Reanimationspuppen kommen zurück in den Requisitenschrank. Doch in künftigen Notfallsituationen können sie auf ihre Erkenntnisse über das eigene Handeln und die Zusammenarbeit im interprofessionellen Team zurückgreifen.