Während meiner Famulatur ergaben sich immer wieder Momente und Situationen, die mich teils eiskalt trafen, beispielsweise wenn ein besonders junger Mensch von Suizidplänen sprach, eine Psychose sehr schwer ausgeprägt war oder ein Patient, einfach keine Besserung erfuhr. Die Psychiatrie war für mich während meines Studiums ein zwar sehr spannendes aber auch frustrierendes Fach. Ich – und wahrscheinlich auch viele meiner Kommilitonen – hatte den Eindruck, dass die therapeutischen Erfolge nur begrenzt sind, stärker begrenzt als etwa in somatischen Fächern. Nach meiner Famulatur denke ich darüber ganz anders. Wie in jedem anderen Fach auch, gab es selbstverständlich einige sehr schwer behandelbare Erkrankungen, jedoch ebenso auch Patienten, deren Zustand sich durch die stationäre Therapie enorm verbesserte. In manchen Fällen konnte man die Fortschritte sogar von Tag zu Tag beobachten.
Daher ist es umso wichtiger, das Bewusstsein für die Psychiatrie, das Verständnis für die Betroffenen und ebenso das Verständnis der Gesunden sowie der erkrankten Psyche zu vertiefen – vor allem bei Medizinstudenten. Aus persönlicher Sicht kann ich es daher nur jedem Studierenden der Medizin ans Herz legen, sich selbst einmal ein Bild des Faches zu machen – sei es in einer Famulatur oder einer kürzeren Hospitation.
Anders als in anderen Abteilungen, erlebte ich in der Psychiatrie eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Berufsgruppen. Das machte die alltägliche Arbeit nicht nur sehr spannend, sondern auch lehrreich. Als Medizinstudent hört man oft nur die ärztliche Sicht auf verschiedene Krankheitsbilder und Patienten. In der Psychiatrie jedoch ist der Austausch mit verschiedenen Berufsgruppen, wie Psychologen, Psychotherapeuten, Ergotherapeuten, Pflegekräften und Sozialarbeitern enorm wichtig und unerlässlich, um einem Patienten ganzheitlich helfen zu können. Mir persönlich hat das sehr gut gefallen. Ich fand es spannend, andere Sichtweisen zu hören, die Arbeitsweise der anderen Mitarbeiter mitzubekommen und ihre Einschätzung zu hören. Nur so konnten Fortschritte oder etwa eine Verschlechterung der individuellen Situation der Patienten adäquat beurteilt werden. Das macht die Psychiatrie, meiner Meinung nach, zu einem wirklich einzigartigen Arbeitsumfeld innerhalb der klinischen Abteilungen. Man lernt unglaublich viel aus anderen Bereichen, wie der Psychologie, Soziologie, sogar der Rechtswissenschaften, und stellt die eigene klinische Handlungsweise immer wieder vor anderen Hintergründen in Frage. Auch ethische Konflikte sind in der Psychiatrie immer wieder ein Thema: Wann ist eine Zwangsmedikation gerechtfertigt? Ab wann kann man von einer Fremdgefährdung sprechen? Wie rechtfertigt man einen Antrag auf eine gesetzliche Unterbringung?
Wer jedoch denkt, dass Psychiatrie nur aus Anamnesen bestünde, liegt im Unrecht. Viele Patienten sind multimorbide und benötigen daher ebenfalls eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fachabteilungen. Die Einstellung der meisten Psychopharmaka erfordert engmaschige Kontrollen der therapeutischen Spiegel sowie die Abfederung von etwaigen Nebenwirkungen. Die „klassische“ klinische Tätigkeit eines Arztes kommt ebenfalls nicht zu kurz. Bildgebungen, EKGs, Liquorpunktionen und eine weiterführende internistische Diagnostik stehen, wie in anderen Abteilungen auch, auf der Tagesordnung der Psychiatrie. Ein guter Überblick über internistische und infektiologische Krankheitsbilder gehört ebenfalls zum Repertoire eines guten Psychiaters. Wenn ich die Arbeit eines Psychiaters in der Klinik in einem Wort zusammenfassen müsste, würde ich sagen: Vielseitig!
Leider eilt der Psychiatrie oftmals ein, ungerechtfertigterweise, schlechter Ruf voraus. Das hängt nicht zuletzt mit der Stigmatisierung psychiatrischer Erkrankungen zusammen. Ich denke, wovor sich viele Laien, aber auch Medizinstudenten, scheuen, ist das Unbekannte und Unverstandene an vielen psychiatrischen Erkrankungen. Menschen empfinden es als unangenehm mit Dingen konfrontiert zu sein, die sich ihrer eigenen Logik entziehen. Bei einer Psychose, einer schweren Depression, einer Manie oder einer Borderline-Störung etwa, ist dies jedoch ein zentraler Bestandteil der Krankheitsdynamik. Der Inhalt der Erkrankung und die Symptomatik entzieht sich der Logik, die wir gesellschaftlich erlernt haben, in uns tragen und (für uns) kulturell angemessen ist. Das führt nicht selten zu unangenehmen Gefühlen bei einer Konfrontation mit Erkrankten.
Gerade im Moment widmen Zeitungen, Blogs und Zeitschriften immer häufiger Artikel und Inhalte den psychiatrischen Erkrankungen. „Mit `nem Beinbruch gehst du auch zum Orthopäden…“ singt die bekannte Poetry-Slammerin Julia Engelmann. Eine psychiatrische Erkrankung mit einem Beinbruch zu vergleichen, erscheint mir zwar nicht ganz passend, jedoch ist das auch gar nicht die Intention dahinter. Viel mehr drücken diese einfachen Worte aus, was für jeden Einzelnen selbstverständlich sein sollte: Psychiatrie und Somatik sind äquivalent in ihrer Wichtigkeit, Daseinsberechtigung und ihrem Standing. Die Gesellschaft scheint sich dem immer mehr zu öffnen und die Akzeptanz scheint zu steigen. Dennoch halten sich hartnäckig Vorurteile gegenüber der Psychiatrie, die, denke ich, nur durch das aktive Engagement der Fachkreise gebrochen werden können.
Abschließend kann ich nur sagen, dass ich dankbar für die Erfahrungen bin, die ich in meiner Famulatur sammeln durfte und ich kann es jedem Medizinstudenten nur empfehlen, sich selbst einmal ein (vorurteilsfreies) Bild von diesem spannenden Fach zu machen!