Während ich diesen Artikel schreibe, blicke ich auf einen Monat voller Emotionen, Erfahrungen und Erkenntnisse zurück, einen Monat, den ich definitiv – egal wohin es mich verschlagen sollte – nicht so schnell vergessen werde. Anfang des Jahres entschied ich mich dafür, mich für eine Famulatur in der Psychiatrie zu bewerben. Prompt erhielt ich von der Universitätsklinik in Frankfurt eine Zusage. Auf die Frage hin, welche Station mir zusagen würde, hatte ich keine konkrete Antwort parat, denn ehrlich gesagt hatte ich mir darüber nicht so recht Gedanken gemacht. Also wurde ich kurzerhand für 4 Wochen auf der geschlossenen, akutpsychiatrischen Station eingeteilt, „um einmal das ganze Spektrum der Psychiatrie“ zu sehen. Zugegebenermaßen trat ich die Famulatur mit gemischten Gefühlen an. Wie sich hinterher jedoch herausstellen würde, sollte ich meine Entscheidung nicht bereuen.
"Ich muss zugeben, dass es nicht immer einfach war, sich emotional von den Patienten zu distanzieren"
Hinter verschlossenen Türen fand ich eine Station voller akuter Krankheitsbilder, von bipolar affektiven Störungen bis hin zu Schizophrenien, schweren Depressionen, akuter Suizidalität, multiplem Substanzmissbrauch und Borderline-Persönlichkeitsstörungen. An meinem ersten Tag fand direkt eine Oberarztvisite statt und ich trat mit den verschiedensten Patienten zumindest in kurzen Kontakt. Leicht eingeschüchtert hörte ich anfangs nur bei den Explorationen zu. Es war eine gänzlich neue Erfahrung mit Patienten zu sprechen, welche im Moment des Gesprächs in ihrem psychotischen Erleben gefangen waren oder in einer manischen Antriebssteigerung kaum einen Gedanken zu Ende fassen konnten. Immer wieder erlebte ich Momente, die mich sehr nachdenklich stimmten. In meinem Studium hatte ich zwar ein zweiwöchiges Psychiatrie Blockpraktikum absolviert, ich hatte jedoch nie erlebt, wie ein Patient zu seinem eigenen Schutz fixiert werden musste oder wie ein gleichaltriger Patient mir mitteilte, dass er unter keinen Umständen mehr leben wolle. Ich muss zugeben, dass es nicht immer einfach war, sich emotional von den Patienten zu distanzieren, da die persönlichen Schicksale teils sehr vereinnahmend waren. Soziale Abstiege bis hin zur Obdachlosigkeit, familiäre sowie persönliche Krisen und Suizidversuche waren keine seltenen Erscheinungen in den Biografien der Patienten. Während der Famulatur erlebte ich, wie verheerend die Folgen einer psychischen Erkrankung für den Betroffenen sein können. Aus ärztlicher Sicht bedeutet die ganzheitliche Betreuung eines akutpsychiatrischen Patienten daher nicht nur die Einstellung seiner Medikamente oder die Anmeldung zu Psychotherapie-Gruppen, sondern auch Telefonate mit Sozialarbeitern, Gerichten, Obdachlosenunterkünften, betreuten Wohnheimen, niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten, gesetzlichen Betreuern und besorgten Angehörigen.
Oft fällt es Studierenden der Medizin sehr schwer, konkrete Vorstellungen von der späteren Tätigkeit als Arzt zu haben, da meiner Meinung nach nur wenig praktische Einblicke während des Studiums ermöglicht werden. Gerade in der Psychiatrie unterscheidet sich die klinische Tätigkeit jedoch sehr von der Tätigkeit anderer Kliniker. Wer gerne apparative Diagnostik betreibt, Schreiben und Telefonieren als lästig empfindet und auf Fragen klare Antworten von seinem Patienten erwartet, ist hier definitiv fehl am Platz. Mehrstündige Visiten, lange Explorationen und die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Berufsgruppen sind in der Psychiatrie Alltag. Mir persönlich hat diese Art der Arbeit sehr viel Spaß gemacht. Eine weitere Besonderheit der Psychiatrie sind die sehr individuellen Krankheitsverläufe, die zwar auch in anderen Fachdisziplinen zu finden sind, jedoch in anderer Art und Weise. Keine Schizophrenie oder Psychose gleicht der Anderen, so wie auch kein Mensch dem zweiten gleicht. Eine gewisse Bereitschaft dazu, sich auf das Erleben und die Wahrnehmung anderer Menschen einzulassen und auch in schwierigen Gesprächen Ruhe und Geduld zu bewahren, ist daher unerlässlich. Anders als in chirurgischen Fächern sind Patienten in der Psychiatrie oftmals bereits jahrelang im Hause bekannt und haben schon mehrere stationäre oder ambulante Behandlungsphasen hinter sich. Ein episodenhafter Verlauf ist bei vielen Erkrankungen, beispielsweise bei einer Schizophrenie oder einer bipolar affektiven Störung, häufig und führt zu wiederholten ärztlichen Kontakten. Es erscheint in diesem Zusammenhang als sehr wichtig, dies nicht als frustrierend zu empfinden, sondern zu akzeptieren, dass diese Phasen zu dem individuellen Krankheitsverlauf gehören, um als Arzt mit Motivation therapeutisch vorgehen zu können.
Während meiner Famulatur lernte ich nicht nur viel über die Behandlung psychiatrischer Erkrankungen, sondern auch über das „Standing“ psychisch Kranker und der Psychiatrie in der Gesellschaft. Ich war erstaunt über die Reaktionen meines Umfelds auf meine Famulatur in der Psychiatrie. Was ich letztendlich als wichtigste Essenz dieser Reaktionen und Gespräche feststellen konnte, war Unwissenheit und „falsches Wissen“. Oft hörte ich Sätze wie „Da gebt ihr den Leuten Medikamente, wenn die nicht ruhig sind und sich nicht behandeln lassen wollen, oder?“, „Mein Gott, Schizophrene sind das nicht die, die ihre Familienmitglieder umbringen wollen im Wahn?“, „Sag mal, ist das denn nicht gefährlich da bei den Verrückten?“ oder „Ja aber das Therapieren bringt ja eh kaum etwas, würde mich persönlich frustrieren.“ Schockierend war für mich vor allem, dass ich derlei Aussagen oftmals von meinen Kommilitonen, also werdenden Medizinern hörte.
Mir war zwar bereits vor meiner Famulatur bewusst, dass in der Gesellschaft viele Vorurteile gegenüber psychisch Kranken und auch psychiatrischen Einrichtungen vorhanden waren, jedoch hatte ich mich nie so genau damit befasst, wie in der Zeit meiner Famulatur.
In Teil 2 folgen weitere Erlebnisse aus meiner Famulatur und Überlegungen zu dem Beruf des Psychiaters.