Ich lasse meine Kinder also von morgens bis abends alleine, um einem Dozenten mit Selbstwertkomplexen dabei zuzuhören, wie unverzichtbar sein Fach ist. Zugegeben, allein sind sie nicht, die Kinder, und sie sind auch nicht bis abends im Kindergarten, sondern ab 14:00 bei Papa oder Oma. Es geht ihnen also nicht schlecht. Aber ich wäre trotzdem viel lieber bei den Kiddies, als meine Zeit hier absitzen zu müssen...
Ich sitze also um 17:00 in der Sonographie-Vorlesung und höre mir an, dass im Sono eigentlich alles zu sehen sei, CT und MRT also redundant seien, wenn man das Sonographieren so gut drauf habe, wie der Herr PD. Deswegen sei diese Vorlesung auch Pflicht. Würde dem Herr PD wirklich etwas daran liegen, dass wir Sonographieren lernen, so sollte er meiner Meinung nach einen praktischen Kurs zur Pflicht machen. Sich eine Vorlesung über die Namen der Schallköpfe anzuhören, heißt noch lange nicht, dass man das Sonographieren beherrscht. Learning by doing. Wie dem auch sei, der Herr PD ist überzeugt davon, dass seine Vorlesung unabkömmlich für alle Cand.med. sei, und um sich dessen selbst noch einmal zu versichern, betont er dies mehrmals während dieser gähnend langen 90 Minuten am späten Nachmittag. Ich kann nur an meine Kinder denken, mit denen ich jetzt viel lieber Pippi Langstrumpf lesen würde, als mir das anhören zu müssen.
Diese Pflichtvorlesung ist Teil der 40-Stunden-Woche, die sich “Blockpraktikum Innere Medizin” nennt. Die Blockpraktika werden bei uns immer in den ersten und letzten drei Wochen des Semesters im „Block“ angeboten. Manche Fächer dauern zwei Wochen, manche eine, so werden also immer zwei bis drei Fächer zusammengenommen und hintereinander abgearbeitet. Da es (sowohl organisatorisch als auch finanziell als auch emotional) nicht so einfach ist, die Kinder drei Wochen lang in Vollzeit betreuen zu lassen, habe ich diese Praktika lange vor mir hergeschoben. Sehr lange. So lange, dass mir das Wort “Blockpraktikum” schon zu einem Gräuel wurde. Denn vom Staatsexamen trennen mich eigentlich nur noch zwei klitzekleine Prüfungen. Und eine Menge Blockpraktika. Dieses Semester habe ich mich endlich getraut, die 40-Stunden-Wochen Stück für Stück in Angriff zu nehmen. Wie habe ich das gemacht?
Organisation meinerseits
Morgens brachte unser Papa die Kinder zum Kindergarten, was für ihn nicht ganz so einfach war, weil er größtenteils abends und nachts arbeitet und normalerweise am Vormittag schläft. Abgeholt wurden sie drei Tage von meiner Mutter und zwei Tage von meinem Mann, die sich an diesen Tagen jeweils Urlaub nehmen mussten – unbezahlten Urlaub, da beide selbstständig arbeiten. Wenn ich abends aus der Uni kam, las ich den Kindern ein bisschen vor und brachte sie ins Bett. Dann räumte ich auf, faltete und bügelte Wäsche. Sah die Post durch, überwies und ordnete Rechnungen. Bevor ich selber todmüde ins Bett fiel, guckte ich Krankheitsbilder nach, die mir tagsüber untergekommen waren, und die ich schon vergessen hatte. Vor 23:00 Uhr kam ich nicht ins Bett und stand um 6:00 Uhr auf. Und dazwischen: keine Minute Zeit zum Ausruhen. Das zu den harten Fakten. Die weichen waren: “Mama ich hab’ dich so vermisst!” – “Mama, ich will nicht schlafen gehen, du bist doch erst gekommen!” – “Mama, morgen sollst du mich vom Kindergarten abholen!”
Leider wurde am Ende der zweiten Woche ein Krümelchen krank und ich musste das letzte Fach auf’s nächste Semester schieben. Um ehrlich zu sein, war ich ganz froh, denn ich weiß nicht, ob ich das drei Wochen lang so ausgehalten hätte...
Organisation – die Uni
Doch zurück zum Blockpraktikum Innere Medizin: Um 8:30 Uhr (Papa und die Kids fuhren wohl gerade zum Kindergarten los) saß ich im EKG-Kurs, der wirklich hilfreich war – was bis dahin für mich und viele Kommilitonen nur eine seltsam zackige und wellige Linie war, bekam plötzlich tiefere Bedeutung.
Ab 10:30 Uhr ging es auf Station. Hier sollten wir eigentlich Patienten aufnehmen oder auf Visite mitlaufen. Doch… da die Aufnahmen alle gemacht wurden, während wir beim EKG-Kurs waren, und da keiner der Ärzte Zeit hatte, sich um uns zu kümmern, wurden wir dem PJ-Studenten angehängt und guckten zu, wie er Nadeln legte. Oder wir standen im Arztzimmer herum und wussten nicht, wohin mit uns, bis wir schließlich Mittagessen gehen durften. Um 14:00 Uhr hätten wir eigentlich “Fallbesprechung” mit dem Oberarzt gehabt. Aber der kam – mangels Zeit – nur zwei von fünf Malen. Und Fälle hatten wir auch keine zu besprechen, weil am Vormittag ja so viel los gewesen war.
Dann hatten wir eine nutzlose Stunde Leerlauf – aufgrund von Hörsaalbelegungen – und zuletzt eine Pflichtvorlesung bis 17:30 Uhr. Ich glaube, ich muss nicht erwähnen, dass wir effektiv nichts gelernt haben.
Schon am ersten Tag war meine Laune im Keller. Wer hat das bitte organisiert? Mir ist klar, dass das Medizinstudium nun mal nicht ohne Anwesenheitspflicht auskommt und ich bin bereit, oben erwähnten Organisationsaufwand zu bewältigen, um mein Studium abzuschließen. Wer aber Studenten in die Pflicht nimmt, anwesend zu sein, der sollte gleichwohl in die Pflicht genommen werden, dass der Kurs auch gut organisiert ist und die anwesende Zeit sinnvoll verbracht wird. Seitdem ich Kinder – also Verantwortung nicht nur für mich – habe, bin ich sehr kritisch geworden, was den Umgang mit meiner Zeit angeht. Wenn ich so viel opfern muss, dann möchte ich auch, dass etwas dabei herauskommt – und nicht nur im Arztzimmer dumm herumstehen.
Eigenverantwortung für die Studenten
Meiner Meinung nach ist jeder selber verantwortlich dafür, was er lernt. Eine Uni, die qualitative Kurse in allen Fachgebieten anbietet und bei der sich jeder selbst aussuchen darf, welche er besucht, wäre mein Traum. Wir Studenten wissen doch alle: Am Ende müssen wir das Staatsexamen bestehen und wollen außerdem gute Ärzte werden. Wie wir das erreichen, sollten wir uns doch bitte selber aussuchen dürfen.
Aber nein, stattdessen werden wir für unmündig gehalten und lernen jetzt schon, uns vor den Oberen in der Krankenhaushierarchie zu ducken.