Das deutsche Gesundheitssystem hinkt aus der Sicht des Wissenschaftsrates bei der Digitalisierung im Vergleich mit anderen Industrienationen deutlich hinterher. Erst in jüngerer Zeit seien verstärkte Anstrengungen bezüglich der Digitalisierung des Gesundheitswesens zu erkennen, konstatiert das interdisziplinär besetzte Gremium in seinem jüngsten Positionspapier „Digitalisierung und Datennutzung für Gesundheitsforschung und Versorgung“, das heute virtuell vorgestellt wurde. Vorausgegangen waren die Sommersitzungen des Gremiums in der vergangenen Woche und am Wochenende in Magdeburg.
Bezüglich der Digitalisierung des Gesundheitswesens gelte es jetzt dringend aufzuholen, meint der die Politik beratende Wissenschaftsrat. „Das ist eine Aufgabe von nationaler Tragweite“, betonte heute der Vorsitzende des Ausschusses Medizin des Wissenschaftsrats, Wolfgang Wick.
Es müsse eine Vorstellung entwickelt werden, wie die Digitalisierung in Forschung und Versorgung aussehen solle, erläuterte der Professor für klinische Neuroonkologie und Ärztlicher Direktor für klinische Neuroonkologie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen an der Universität Heidelberg.
„Die Investitionen in die Digitalisierung des Gesundheitswesens sind Investitionen in die Zukunft“, sagte Wick. Diese müssten von der öffentlichen Hand vorgenommen werden. Es gelte, das im Koalitionsvertrag festgehaltene Gesundheitsdatennutzungsgesetz möglichst rasch voranzubringen und – im Zuge dessen – auch eine Widerspruchslösung (Opt-Out-Regelung) für die Datenbereitstellung aus der elektronischen Patientenakte umzusetzen.
Noch seien in Deutschland nur wenige Gesundheitsdaten verfügbar beziehungsweise diese seien an unterschiedlichen Orten abgelegt, was eine Auswertung und Verwertung erschwere, bedauerte Wick. Insgesamt führe das zu Nachteilen bei der Gesundheitsversorgung.
„Wir brauchen Interoperabliltät“, forderte er. Das geplante Gesundheitsdatennutzungsgesetz könne da einen wichtigen Beitrag leisten. Ein nationales Gesundheitsdatenportal könne Informationen über die dezentralen Datenbestände vermitteln und Forschende beim Zugang unterstützen.
Ein digitalisiertes Gesundheitssystem verspreche nicht nur Erleichterungen für Gesundheitspersonal sowie Patientinnen und Patienten. Es sei die wesentliche Voraussetzung für die datenintensive Gesundheitsforschung, die wiederum den Bürgerinnen und Bürgern ganz neue und qualitativ hochwertige Versorgungsmöglichkeiten bringen könne, beispielsweise bei der Personalisierten Medizin, betont der Wissenschaftsrat in seinem Positionspapier.



„Man kann gar nicht oft genug darauf hinweisen, wie wichtig die Digitalisierung in Gesundheitsforschung und Versorgung für Wohlstand, Unabhängigkeit und Innovationskraft des Standorts Deutschland ist, aber vor allem für den einzelnen Menschen und sein Wohlergehen“, untermauerte heute Dorothea Wagner, Vorsitzende des Wissenschaftsrats, die Empfehlungen des Rates. Dies gelte gleichzeitig für verschiedene Gebiete und Disziplinen.
Auch wenn Gesundheit einen besonders sensiblen Bereich darstelle und eine gewisse Zurückhaltung plausibel sei, würden die Risiken von Digitalisierung und Gesundheitsdatennutzung gegenüber den Chancen, die sie biete, vielfach überbetont, kritiserte Wagner, selbst Professorin für Informatik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
Ein gesellschaftlicher Konsens zur Nutzung und zum Teilen von Gesundheitsdaten sei nicht erkennbar. Dabei gelte: „Die Nicht-Nutzung von Daten kann Menschenleben kosten.“ Gerade als Informatikerin werde sie da ungeduldig. „Wir haben auf breiter Front einen enormen Nachholbedarf“, so Wagner. Zur Sicherheit der Datennutzung wolle der Rat demnächst noch ein weiteres Papier vorlegen.
Positiv bewertet der Wissenschaftsrat die in den letzten Jahren gestarteten Initiativen des Bundes, wie die Medizininformatik-Initiative und das Netzwerk Universitätsmedizin. Zusätzlichen Schub habe die COVID-19-Pandemie gebracht, die eine „missing data-Krise“ offengelegt und der Bevölkerung die Vorteile digitaler Gesundheitsangebote vor Augen geführt habe. Aber auch die Krebsforschung könne durch die Digitalisierung weit vorangebracht werden, ergänzte Wick.
Hieran gelte es anzuknüpfen und alle Gesundheitseinrichtungen und vor allem die Universitätsmedizin in die Lage zu versetzen, die Potenziale der Digitalisierung zu heben. „Digitalisierung muss standardisiert werden“, forderte heute der Intensivmediziner Gernot Marx, Sprecher des Vorstands des Innovationszentrums Digitale Medizin Aachen, bei der Vorstellung des Positionspapiers.
Es habe sich während der Pandemie gezeigt, dass Telemedizin die Versorgung verbessern könne, sagte der Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care des Aachener Universitätsklinikums, der als Gast des Ausschusses Medizin des Wissenschaftsrats an der Erarbeitung des Positionspapiers beteiligt war. „Wir müssen jetzt ins Doing kommen“, betonte er. Auch angesichts des demografischen Wandels laufe Deutschland ansonsten die Zeit weg.
Besonders wichtig sei die Vernetzung zwischen Akteuren über Sektoren- und Einrichtungsgrenzen, um den Datenaustausch zu erleichtern und das Ziel einer mit der Forschung kompatiblen, dezentralen Gesundheitsdateninfrastruktur umzusetzen, so Marx. „Wir haben einen großen Nachholbedarf. Was technisch möglich ist, muss nun auch in Deutschland Realität werden.“ Dafür müssten eine einheitliche Datensprache und interoperable IT-Systeme implementiert werden.
Empfehlungen zur Digitalisierung in Studium und Lehre
Defizite sieht der Wissenschaftsrat auch bei der Digitalisierung der Lehre und des Studiums in Deutschland. Mit seinen ebenfalls am Wochenende verabschiedeten „Empfehlungen zur Digitalisierung in Lehre und Studium“ zeigt er, wie digitale Lehrangebote Freiräume für Austausch und Reflexion schaffen und größere Flexibilität bei der Organisation des Studiums ermöglichen können.
Dank des hohen Engagements, der Anpassungsfähigkeit und Kreativität von Hochschulen, Lehrenden und Studierenden seien während der Pandemie große Fortschritte in der Digitalisierung erzielt worden, sagte die Vorsitzende der entsprechenden Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrates, Nina Dethloff.
„Nun gilt es, diesen Schub zu nutzen, um die Digitalisierung in der Lehre nachhaltig und breitenwirksam voranzutreiben und so die Leistungsfähigkeit des Hochschulsystems zu erhöhen“, erläuterte heute die Professorin für Rechtswissenschaften an der Universität Bonn bei der Vorstellung der Empfehlungen.
Konkret empfiehlt der Rat den Hochschulen, digitale Lehrangebote vermehrt einzusetzen, um das selbstbestimmte, individuelle und kollaborative Lernen zu fördern. Dazu sollte auch die Forschung zu didaktischen Konzepten für die digitale Lehre intensiviert werden. Lehrende sollten Weiterbildungsangebote erhalten, damit sie neue didaktische Lehr- und Prüfungskonzepte erproben können. Für die technische und räumliche Ausstattung der Hochschulen definierte der Wissenschaftsrat konkrete Mindestanforderungen.
Insellösungen und Experimente seien jetzt nicht mehr passend, erklärte Klaus Diepold, Professor für Datenverarbeitung an der Technischen Universität München. Stattdessen gelte es, neue Impulse zu setzen, für Infrastrukturen und Technologien gemeinsame Standards zu etablieren, vorhandene Aktivitäten in der Didaktik oder Weiterbildung stärker zu koordinieren und hochschulübergreifend zu organisieren. „Das wird den Lehrenden will abverlangen“, ist Diepold überzeugt.
Auch deshalb müssten die Hochschulen auch finanziell in die Lage versetzt werden, als Impulsgeber zu wirken und den digitalen Wandel anzuführen. „Damit die Hochschulen dauerhaft die vielfältigen und stetig zunehmenden Aufgaben im Zusammenhang mit der Digitalisierung erfüllen können, sind Investitionen, langfristig angelegte Finanzierungsmechanismen und starke Unterstützungsstrukturen nötig“, so Diepold. Die Infrastruktur müsse nicht nur etabliert, sondern dann auch am Laufen gehalten werden.
Es werde häufig unterschätzt, welche Mittel tatsächlich für eine gelungene Digitalisierung an den Hochschulen zur Verfügung gestellt werden müssten, sagte Marie Müller, Vorstandsmitglied des freien Zusammenschlusses von Student*innenschaften (fzs). „Digitalisierung ist keine Sparmaßnahme und erfordert laufende Investitionen ohne absehbares Ende“, betonte auch Dethloff. Bund und Länder sollten sich über die gemeinsame Finanzierung verständigen.