Kulturelle Kompetenz – Vorurteile ade

Missverständnisse mit Patienten aus anderen Ländern sorgen bei Ärzten immer wieder für Frustration. Was viele dabei nicht wahrhaben wollen, kultursensible Kommunikation scheitert oft an mangelnder Selbstreflexion und nicht ausschließlich am Gegenüber.

Kultur

"Viele Missverständnisse werden fälschlicherweise kulturalisiert." Fabian Jacobs, Pädagoge, Medizinische Fakultät, LMU | Mumpitz/Fotolia

„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir bei Malek* Krebs diagnostiziert haben“, so oder ähnlich lautete die Nachricht, die die türkisch-muslimische Familie von einem deutschen Arzt entgegennehmen musste. Ihr 16-jährigerSohn habe nur noch wenige Monate zu leben. Die Eltern waren fest entschlossen, dass Malek von dieser Diagnose auf keinen Fallerfahren sollte. Der Islam und ihre Tradition würden das nicht erlauben, begründeten sie die Entscheidung. „Diese Situation stellt den klassischen Fall eines interkulturellen Konflikts dar, wie er in der Literatur oft als Paradebeispiel angeführt wird“, erläutert Privatdozent Dr. med. Michael Knipper den realen Fall. Der Verweis auf die „fremde“ Kultur stehe im Fokus. „Dabei spielen kulturelle wie auch sprachliche Barrieren zwar eine wichtige Rolle, dürfen aber nicht isoliert betrachtet werden“, sagt der Kovorsitzende des Ausschusses „Interkulturelle Kompetenz und Global Health“ der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). Zusätzlich behindern strukturelle, soziale oder wirtschaftliche Aspekte die Kommunikation.

Schon in der Ausbildung ist interkulturelle Kompetenz wichtig

„Medizinstudierende in Deutschland sollten sich genau wie in Großbritannien und Nordamerika schon in der Ausbildung mit interkultureller Kompetenz auseinandersetzen“, fordert Knipper. So steht es auch im Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog für Medizin. Die ersten medizinischen Fakultäten berücksichtigen die neuen Lernziele bereits. Wer für Situationen, wie im Fall von Malek, gewappnet sein will, der ist unter anderem an Fakultäten in Gießen und Hamburg gut aufgehoben. In Gießen gibt es bereits seit 2004 das Wahlfach „Medizin und Migration“. Hier lernen Studierende, wie Mediziner zwischen kontroversen Wertvorstellungen vermitteln. „Stellt man die richtigen Fragen, zeigt sich eventuell ein ganz anderes Bild“, erklärt Knipper. Weder die Tradition noch der Glaube verbieten strikt, schlechte Diagnosen zu übermitteln. „Die Familie willigt vielleicht ein, wenn Ärzte zunächst Vertrauen aufbauen und eine behutsame, indirektere Form der Aufklärung vorschlagen.“ Auf Worte wie „Therapiebegrenzung“oder „-abbruch“ sollte man dabei verzichten und stattdessen erklären, dass zwar keine kausale Therapie möglich ist, aber eine palliative Behandlung. Hier könnte tatsächlich der muslimische Glauben ins Spiel kommen, erklärt Knipper. Gott gegenüber sehen einige Muslime eine Verpflichtung, sich medizinisch behandeln zu lassen. Der Eindruck, dass eine Therapie begrenzt oder abgebrochen wird, könne daher Abwehr provozieren. Hilfreich sei auch der Beistand einer religiösen Vertrauensperson.

Ein Schema F, wie es sich viele Ärzte wünschen würden, gebe es nicht.

Vor allem Studierende mit eigenem Migrationshintergrund bereicherten die Diskussionen bei der Suche nach Lösungen, so die Erfahrung des Experten. Eine Checkliste für den Umgang mit einem bosnischen, türkischen oder muslimischen Patienten wollen auch die Hamburger nicht bieten. „Genauso wenig, wie wir Leitlinien für den typischen deutschen Patienten etablieren würden, denn Meier kann ganz anders ticken als Müller“, sagt Niels-Jens Albrecht, Mediziner und Ethnologe in Hamburg. Um auf kulturelle Barrieren zu stoßen, müssen Ärzte nicht zwangsläufig Menschen mit Migrationshintergrund begegnen, ist er sich sicher. „Verständigungsprobleme treten auch auf, wenn sie einen Arzt aus der Großstadt auf die Schwäbische Alb schicken.“ In Hamburg wurde 2012 daher das Wahlpflichtfach „Interkulturelle Kompetenz und internationale Medizin“ (intermed) ins Leben gerufen. Statt einer Checkliste gibt es eine Art Kommunikationsleitfaden. „Dafür haben wir migrationssensible Aspekte im üblichen Anamnesebogen ergänzt“, berichtet Albrecht. Diesen wenden die Studierenden in der Praxis an, wenn sie im Rahmen des Wahlfachs ihre Hospitation absolvieren. Dafür kooperiert intermed mit niedergelassenen Ärzten und Stadtteilkrankenhäusern, die einen großen Anteil von Patienten mit Migrationshintergrund behandeln.
Ein kritischer Blick auf das Selbst ist dabei das A und O. Die angehenden Ärzte müssten zunächst ihre eigene medizinische Sozialisation, berufliche Rollenvorstellungen und kulturelle Normen reflektieren, ergänzt Dr. phil. Houda Hallal vom Studiendekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Köln. „Die Studierenden müssten sich vorherrschenden Denkmustern bewusst sein“, erklärt Hallal. Ohne diesen initialen Schritt läuft jede Arzt-Patienten-Kommunikation Gefahr, aufgrund von Stereotypen-Denken fehlzuschlagen. Zwar steigt das Interesse am Querschnittsfach „Medizin und Migration“, seitdem mehr Geflüchtete nach Deutschland kommen. „Dennoch ist kultursensible Kommunikation für viele Ärzte noch ein Fremdwort“, sagt Albrecht. Das erkenne man beispielsweise am Xenolekt. Sobald der Patient nicht akzentfrei Deutsch spricht, neigten einige dazu, lauter und langsamer zu sprechen und nur noch bruchstückhaft zu informieren. Mit sozialen Kategorien behaftet sei auch der Besuch von Großfamilien beim Arzt, berichteten eine Studentin und eine Ärztin in Gruppengesprächen, die Hallal im Rahmen ihrer Dissertation zum Thema „Diversität in der humanmedizinischen Ausbildung“ durchführte. Patienten, die ihre Verwandten mitbringen, würden oft als schwierige Kandidaten eingestuft.
Zudem erhalten arabische oder türkische Patienten, die über Schmerzen klagen, nicht selten den Eintrag „Morbus Bosporus“ oder „Mama Mia Syndrom“ in ihrer Krankenakte, so die Einschätzung in einer Gruppendiskussion. Das bedeutet, der Patient ist wehleidig und übertreibt. Verlassen sich Ärzte auf diese ethnischen Kategorien und diskriminierenden Entpersonifizierungen, ohne den Patienten richtig zu untersuchen, können schwerwiegende Ursachen übersehen werden“, warnt Hallal. Weitere Phänomene der Ausgrenzung konnte sie in ihrer Dissertation beobachten. Ein Student berichtete über ein „maximales Aufklärungsdefizit“. Weil ein Gynäkologe aufgrund einiger Grammatikfehler einer schwangeren Patientin davon ausging, dass diese ihn nicht verstehen würde, folgte die Schlussfolgerung: „Da müssen wir einen Kaiserschnitt machen (...) zu viele Risiken, da wir nicht aufklären können.“

Höchste Zeit, um der interkulturellen Kompetenz einen höheren Stellenwert in der studentischen Ausbildung zuzugestehen.

„An einigen Standorten entwickelt sich das Angebot zur interkulturellen Kompetenz sehr positiv“, berichtet Knipper. Gleichzeitig stellen andere Standorte ihre bereits etablierten Angebote wieder ein. Ziel muss es sein, interkulturelle Kompetenz als longitudinales Modul in verschiedenen medizinischen Fächern des Regelstudiums zu integrieren. Am wichtigsten sind nach Albrechts Ansicht die Fachbereiche Infektiologie, Orthopädie, Pädiatrie, Gynäkologie, Psychosomatik, Psychiatrie und die Allgemeinmedizin. Diese Fachgruppen suchen Menschen mit Migrationshintergrund häufig auf. Zwischen der Familie des 16-jährigen Malek und seinen Ärzten blieb die vermeintlich kulturelle Barriere bis zuletzt unüberwindbar. Dabei wurde die Sorge der Familie missverstanden. Denn diese galt nicht dem „ob“, sondern dem „wie“: Es war die Sorge vor einer unangemessen harten, den Jungen zusätzlich traumatisierenden Aufklärung, wie sie die Familie für deutsche Ärzte offenbar als „typisch“ empfand. Kulturelle Stereotypen auf beiden Seiten verhinderten die Verständigung. Malek wurde schließlich an einen Arzt mit gleichem kulturellen Bezug überwiesen und starb zu Hause. „Ein typischer Fall, bei dem die Differenzen überwindbar gewesen wären“, ist Knipper überzeugt.

* Name von der Redaktion geändert

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