Die Tür fliegt auf, Menschen kommen hereingeströmt und rufen „Notfall, Notfall!“. Das Team der Notaufnahme steht bereit im Schockraum, jeder kennt seine Aufgabe, alle Abläufe sind routiniert. Zunächst wird nach lebensbedrohlichen Läsionen Ausschau gehalten, um diese sofort zu behandeln. Danach findet eine gründliche Bildgebung statt, um Verletzungsfolgen zu finden. Das Ganze dauert nicht länger als 45 bis 60 Minuten. So stellen wir uns einen idealen Ablauf in einer Notsituation vor.
Die Medizinstudentinnen Madeleine Sittner (Leipzig) und Pia Schüler (Köln) gehen mit ihrem Podcast „Heile Welt“ Fragen der Medizin, Politik und Ethik nach. | privat
Betrachten wir mal unseren derzeitigen Notfall. Wie würde der entsprechende Notruf aussehen? Wo: weltweit und grenzenlos. Was? Erderwärmung! Wie viele Personen sind verletzt? Nicht bestimmbar. Welche Verletzungen? Verbrennungen. Malaria. Gelbfieber. Dengue. Unterernährung. Dehydratation. Allergische Reaktionen. Asthma. Posttraumatischer Stress, Depressionen, Angstzustände und viele, viele mehr.
Wie reagiert die Gesellschaft zurzeit auf diesen Notfall? So, als würde eine Horde Hippies barfuß auf eine beliebige Station rennen, den Klimawandel lautstark als Notfall ankündigend. Aber das Team würde nur die Schultern zucken und mit den Augen rollen. Wir reagieren gerade so, als würden wir im Falle eines ankommenden Notrufs einfach jährliche Follow-up-Untersuchungen anordnen können anstatt mit Blaulicht ins Krankenhaus rasen zu müssen. Wir sind nicht spezialisiert auf Verbrennungen oder Unterernährung – also genau die Folgen, die der Klimawandel hervorruft. Und unser Zögern wird Menschenleben kosten.
Der Klimawandel ist ein medizinischer Notfall
Nur langsam sickert durch, dass wir es tatsächlich mit einem Notfall zu tun haben. Das ist keine Zukunftsmusik: Der Klimawandel ist bereits heute ein medizinischer Notfall. Das zeigt ein Blick auf die Zahlen, die wir bereits haben. Die Verbrennung von Kohle ist als eine der Hauptquellen für klima- und gesundheitsschädliche Emissionen zu nennen. Auf die dabei entstehenden gesundheitsschädlichen Partikel gehen in Europa 356.000 Todesfälle jährlich zurück, davon über 54.000 in Deutschland. Denn erhöhte Feinstaubkonzentrationen, wie sie beim Verbrennen von Kohle entstehen, entfalten chronisch entzündliche und karzinogene Wirkungen und führen somit zu kardiovaskulären Erkrankungen wie Koronarer Herzkrankheit oder zu Schlaganfällen.
Oder: der Hitzesommer im Jahr 2003, bei dem die Temperaturen in Europa auf bis zu 47, 5 Grad stiegen, kostete 70.000 Menschen das Leben. Was damals ein Einzelereignis war, wird laut Prognosen aber zur Gewohnheit werden. Was nach dem – voraussichtlich bis 2030 eintretenden – Überschreiten der 1,5-Grad-Grenze der Erderwärmung im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten passiert, können wir nur ahnen. Vor allem im globalen Süden würden Telefonleitungen (falls nach Überschwemmungen und anderen Extremwetterereignissen noch vorhanden) heißlaufen mit andauernden Notfallmeldungen. Die am häufigsten Betroffenen werden Frauen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen sein – und nicht „Ökos“, die in den letzten Jahren nicht ernst genommen wurden.
Beim Absetzen eines Notrufs sollte man immer auf Rückfragen der Leitstelle warten: Was haben Sie bereits unternommen? Wie sind Sie vorgegangen, als sie erste Symptome erkannten? Wie haben sich die Symptome im Verlauf entwickelt? Eine Frage wäre auch: Hätte man diese Ausmaße nicht verhindern
können?
Was können wir tun?
Und das ist der schöne Teil: Wir können etwas tun, um die Klimakrise einzudämmen. Wir können der Überlastung in den Notaufnahmen vorbeugen. Und dabei kann das medizinische Fachpersonal helfen. Ärzte und Ärztinnen haben in der Bevölkerung einen Vertrauensvorsprung – soll heißen, dass die Leute eher auf sie hören: Der weiße Kittel bringt es einfach.
Doch gerade der Gesundheitssektor trägt gleichzeitig einen entscheidenden Teil zu klimabelastenden Emissionen bei. Umso größer ist unsere Verantwortung, unsere gesellschaftliche Stellung zu nutzen, um für Maßnahmen einzustehen, die eine weitere Erderwärmung verhindern und dadurch die Gesundheit fördern. Wir können unseren Patienten und Patientinnen mit einem klimafreundlichen Lebensstil als gutes Beispiel vorangehen und unser Wissen über die Zusammenhänge zwischen Klima und Gesundheit weitergeben. Oft wird ein „Durchschleusen“ von Patienten im Krankenhaus oder in der Sprechstunde beklagt – doch hier können Ärzte die hohe Patientenzahl ausnahmsweise mal nutzen und den vielen Menschen diese Gedankenanstöße zu einem klimafreundlichen und damit gesundheitsfördernden Lebensstil mitgeben. Denn klimafreundlich = gesundheitsfreundlich handeln! Beispielsweise trägt ein verringerter Konsum von rotem Fleisch nicht nur beträchtlich zur Reduktion von CO2- und Methanemissionen bei, sondern vermindert auch das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, kolorektalen Tumoren und Alzheimer.
Mehr Nachhaltigkeit im Krankenhaus
Doch auch auf anderen Ebenen gibt es viel zu verändern: Krankenhäuser sollten Nachhaltigkeit priorisieren und beispielsweise Abfall reduzieren, erneuerbare Energiequellen wählen und ihr Personal zum Thema Energieeinsparung schulen, ihre Gesundheitseinrichtungenan den öffentlichen Personennahverkehr anbinden oder regionale Produkte verkochen und Essensreste minimieren. Es gibt vielfältige Möglichkeiten zur Emissionsreduktion – es muss nur jemand darauf aufmerksam machen. Und diese Aufgabe kommt uns zu. Wir als angehende Ärzte, Pflegende sowie Angehörige des medizinischen Fachpersonals, die mit ihrer Arbeit automatisch einen Teil im zurzeit klimabedrohenden Gesundheitswesen einnehmen. Wir müssen es zu unserem Hauptanliegen machen, präventiv zu handeln und die vom Klimawandel hervorgerufenen Notfälle zu verhindern.
Und dazu müssen wir auch eine dritte Ebene mit ins Boot holen: die Politik, die Machthabenden, Entscheidungstragenden und Einflusshabenden. Ohne ihre Gesetze, Richtlinien, ohne ihr Handeln laufen wir im Schnellschritt weiter auf die Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze zu. Es ist nicht zuletzt auch die Verantwortung des medizinischen Fachpersonals, seine Position zu nutzen und die Regierung zum Einhalten ihrer vereinbarten Ziele in der nationalen und internationalen Klimapolitik umzusetzen. Bringen wir zusammen die Welt wieder zum heilen. Einige Verletzungen sind nicht mehr zu verhindern, aber eine gebrochene Nase ist immer noch besser als ein Polytrauma mit Schädelbasisbruch.