Nach längeren Lernzeiten ist es enorm wichtig, Pausen zu machen. Viele, ich übrigens auch, machen Sport, treffen sich mit Freunden oder hören einfach etwas Musik. Wenn ich allerdings etwas zu lange ins Buch gestarrt habe, schaue ich gerne einige Folgen meiner Lieblingsserie Grey’s Anatomy.
Wer die Serie nicht kennt, hier ein ganz kurzer Handlungsabriss: Im Allgemeinen geht um den beruflichen und persönlichen Alltag von fünf jungen Assistenzärzten im amerikanischen Seattle, die ihre Ausbildung in der Chirurgie absolvieren und untereinander befreundet sind oder andere Arten von Beziehungen führen. Dabei kommen auch die Geschichten ihrer Stations- und Chefärzte nicht zu kurz.
Am 2.1. ging es in einer Folge um einen Patienten, der so einen großen Tumor im Rückenmark hatte, dass er bereits von vielen Neurochirurgen, die den Tumor als inoperabel diagnostiziert haben, abgelehnt wurde. Ein bekannter Neurochirurg des Krankenhauses hat sich aber gewagt, den Tumor zu operieren. Dadurch, dass der Tumor hervorragend vaskularisiert war und im Rückenmark mehrere thorakale Segmente befallen hat, war seine Entfernung nicht einfach.
Bevor ich diese Folge sah, habe ich für die kommende Prüfung in Neuroanatomie die makro- und mikroskopische Anatomie des Rückenmarks sowie seine Blutversorgung wiederholt. Und dann sind in der Folge von Grey's Anatomy Fachbegriffe gefallen, die mir bekannt waren. Der Neurochirurg erzählte in einem Monolog, während er den offenen Patienten vor sich liegen hatte, dass er die Arteria spinalis anterior, die wichtigste Arterie zur Versorgung des Rückenmarks, verletzen könnte. Außerdem erwähnte er die A. radicularis magna (aus der Aorta abdominalis oder der A. intercostalis posterior auf Höhe des 9. Brustwirbels), die der Tumor vollständig umschlossen hatte.
All diese Begriffe sind Teil des Rückenmarks und tauchen tatsächlich auf der Höhe auf, in der der Patient den Tumor hatte. Ob die A. spinalis anterior aber tatsächlich für den Operateur von hinten sichtbar ist, obwohl diese an der Vorderseite des Rückenmarks verläuft, kann ich nicht beurteilen. Trotzdem ist diese Szene ein gutes Beispiel dafür, dass sich die Regisseure Tipps von medizinischen Fachkräften holen, um eine möglichst realistische Szene zu schreiben.
So sehr ich die Serie mag, auch sie hat ihre Schwächen. Hier einige Beispiele: Das ärztliche Personal rennt über eine Schwenktür in einen OP-Saal rein und wieder raus (nicht sehr hygienisch), die Ärzte operieren alleine 30 Stunden, ohne eine Pause zu machen (sehr unwahrscheinlich), Assistenzärzte lassen Organe nach einer Transplantation fallen und setzen sie nach der Drei-Sekunden-Regel in den Organ-Empfänger ein (noch weniger hygienisch).
Mein Lieblingsbeispiel bleibt aber das Defibrilieren bei einer Asystolie (Nulllinie). Irgendwie werden in allen medizinischen Serien Patienten, die keine Herzaktivität mehr aufweisen, defibriliert. Früher war das noch Norm (vielleicht ist das in den USA immer noch so?), da man meinte, ein feines Kammerflimmern auf dem EKG nicht erkennen zu können. Neuste Untersuchungen zeigen aber, dass dies unwahrscheinlich ist. Hat man Zweifel, ob feines Kammerflimmern oder Asystolie vorliegt, ist die Entscheidung zugunsten der Asystolie zu fällen, da man durch die abgegebenen Stromschläge Herzmuskelzellen irreversibel schädigen kann. Das Mittel der Wahl ist hier immer die Reanimation. Denn: Gibt es keine Impulse der spezialisierten Herzmuskelzellen mehr, die das Herz selbständig zum Schlagen bringen, so bringt das Schocken sie auch nicht mehr zum Funktionieren.
Und nun schaue ich eine weitere Folge, denn mein heutiges Lernpensum ist jetzt erreicht.
Andrej Weissenberger (22) studiert Medizin in Bonn und wohnt in Köln. Derzeit befindet er sich im fünften vorklinischen Semester und bereitet sich auf sein Physikum im kommenden Jahr vor.