Frau Kruse, warum ist es so wichtig, Medizinstudenten für die Bedürfnisse von hörgeschädigten Menschen zu sensibilisieren?
Janina Kruse: Als Ärzte in der Praxis oder im Krankenhaus werden wir viele verschiedene Patientengruppen kennenlernen. Deshalb ist es immer gut, auf die unterschiedlichen Patienten vorbereitet zu sein, die im Wartezimmer sitzen können. Ein Beispiel: Wir haben die Praxis eines hörenden Allgemeinmediziners – und es kommt ein tauber Patient in die Sprechstunde. Dem Patienten geht es schlecht: Er hat Fieber, Kopfschmerzen und Halsschmerzen. Er braucht eine Krankschreibung, möchte aber auch mehr über seine Krankheit wissen und was er dagegen machen kann. Der Patient ist sowieso schon nicht so richtig aufnahmefähig, weil er krank ist. Wenn er dem Arzt jetzt noch erklären muss, wie dieser am besten mit ihm kommunizieren kann, überfordert ihn das vielleicht. Es ist auch gar nicht die Aufgabe des Patienten, in dieser Situation Aufklärungsarbeit zu leisten. Für beide Seiten wäre es besser, wenn der Arzt schon einmal etwas davon gehört hätte, wie Kommunikation mit hörgeschädigten Menschen aussehen kann.
Worauf kommt es denn bei der Kommunikation mit hörgeschädigten Menschen zum Beispiel an?
Janina Kruse: Das beginnt bei ganz kleinen Sachen: Schon bei guten Lichtverhältnissen kann maximal 30 Prozent des Gesprochenen von den Lippen abgesehen werden. Alles andere muss aus dem Kontext erschlossen werden. Ärzte haben oft Fenster in ihren Zimmern. Und bei Gegenlicht kann man viel schlechter Lippenlesen. Die zusätzliche Schwierigkeit wäre ganz einfach zu beheben, wenn der Arzt seinen Stuhl ein Stück verschieben würde, nur muss man sich dieser Problematik erst einmal bewusst sein. Oft sind es solche Kleinigkeiten, die die Kommunikationssituation positiv beeinflussen können. Deshalb ist es wichtig, sich schon vor dem ersten Patientenkontakt Gedanken zu machen und die Perspektive wechseln zu können.
Tipps für die Kommunikation mit hörgeschädigten Patienten:
- stetigen Blickkontakt halten
- das Vorgehen erklären, bevor der Blickkontakt abbricht
- Empathie und Geduld mitbringen
- deutlich sprechen, keine Überartikulation!
- Mut zu nonverbaler Kommunikation und Unterstützung durch Mimik
- auf schriftliche Kommunikation zurückgreifen
- Dolmetscher bestellen
Quelle: Umfrage von „Breaking the Silence“ zur Kommunikationssituation im ärztlichen Alltag
Bei Kommunikation mit Gehörlosen denkt man ja immer als erstes an Gebärdensprache. Wie viele Ärzte in Deutschland beherrschen das denn?
Janina Kruse: Das ist schwer zu beantworten – es gibt dazu keine Zahlen. Ich weiß von vielleicht gut einem Dutzend gebärdensprachkompetenten Medizinern – einige davon sind Zahnärzte. Darunter sind auch viele Leute, die Gebärdensprache beherrschen, obwohl sie selber hören können. Das können zum Beispiel hörende Kinder gehörloser Eltern sein, die später Medizin studieren, oder hörende Ärzte, die sich für die Gebärdensprache begeistern. Aber eine offizielle Liste gebärdensprachkompetenter Ärzte gibt es nicht.
Ist denn schriftliche Kommunikation – zum Beispiel über Zettel – eine Alternative?
Janina Kruse: Zettel schreiben nutzt ja eine andere Sprache – nämlich die deutsche Schriftsprache. Das ist eine andere Sprache als die Gebärdensprache – die Gebärdensprache hat eine eigene Grammatik, ein eigenes Vokabular und eine andere Ausdrucksweise. Wir würden also davon ausgehen, dass jeder, der mit einer Hörschädigung vor uns sitzt, gut Deutsch kann. Das ist leider nicht so. Die deutsche Lautsprache ist für viele Taube tatsächlich eine Fremdsprache, die sie lernen müssen, um in unserer hörenden Welt klarzukommen. Aber gerade medizinische Fragen sind sehr spezifisch und verwenden Fachworte. Viele können das – aber eben nicht jeder. Die Zettel sind also nicht unbedingt eine gute Alternative für alle. Abgesehen davon dauert es sehr lange, alles aufzuschreiben – und wie wir alle wissen, haben Ärzte leider oft nur wenig Zeit. Da geht ganz viel Information verloren.
„Breaking the Silence“ bietet an mehreren Fakultäten regelmäßig Workshops an. Was ist das Ziel und wie gehen Sie da vor?
Janina Kruse: Die Workshops werden von vielen Freiwilligen angeboten, die an ihren Fakultäten Lokalgruppen von „Breaking the Silence“ gegründet haben. Meistens dauert ein Workshop 1-2 Tage. Wir wollen den Teilnehmern einen ersten Überblick über die kommunikativen Bedürfnisse hörgeschädigter Menschen geben. Wichtig ist zu wissen, dass es nicht nur um taube Patienten geht – wir beziehen auch Schwerhörige und CI-Träger mit ein. Auch Altersschwerhörigkeit ist ein Thema – zum Beispiel können ja auch manche Senioren nicht mehr ohne weiteres mit dem Arzt kommunizieren. Wir beschäftigen uns mit der Fragestellung, wie man mit diesen Patienten umgeht und eine Umgebung schaffen kann, die allen die Kommunikation so einfach wie möglich macht. Wir sprechen zum Beispiel über Hörhilfen wie Hörgeräte oder Cochlea Implantate – wie sind die aufgebaut und wie bekommt der Patient ein passendes Gerät? Eine andere Frage ist, ob man auch Angehörige bitten kann zu dolmetschen. Oder: Woher bekomme ich einen professionellen Gebärdensprachdolmetscher und wer bezahlt den? Wir machen auch eine kleine Einheit zur Gebärdensprache – dafür laden wir aber externe Dozenten ein, weil wir denken, dass man Sprachen von Muttersprachlern lernen sollte. Wir sprechen auch ein bisschen über die Kultur und Geschichte – und darüber, warum Diskriminierung auch heute noch ein Thema ist. Am Ende sollten die Teilnehmer eine Vorstellung haben, was eine Hörschädigung in unserer Gesellschaft bedeutet.
Wie ist das Feedback der Teilnehmer?
Janina Kruse: Das Feedback ist durchweg positiv. Ab und zu gibt es Anregungen aus der Gruppe: Einige Leute würden gern viel mehr Gebärdensprache lernen, aber das können wir nicht leisten – wir sind ja kein Sprachkurs, sondern ein Sensibilisierungs-Workshop. Wir verweisen dann zum Beispiel an Kurse der Volkshochschulen – manchmal werden entsprechende Kurse auch an den Sprachenzentren der Unis angeboten. Andere wünschen sich einen längeren Workshop und würden gern tiefer in die Materie einsteigen.
Was sagen denn die Hörgeschädigten selbst zu Ihrem Engagement?
Janina Kruse: Viele sind zunächst skeptisch. Wir als Hörende sprechen ja über eine Kultur, der wir nicht selber angehören. Das ist ein bisschen schwierig. Wir laden zu unserem Workshop aber immer auch gebärdensprachige Menschen ein – wir wollen nicht nur über Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit sprechen, sondern mit den Betroffenen selbst, die uns einfach aus ihrem Alltag erzählen und Fragen beantworten können. So wird schnell klar, dass wir niemanden bevormunden wollen, sondern die Kommunikation vereinfachen möchten. Und dann sind sie sehr offen und beantworten auch gern die Fragen der Teilnehmer, zum Beispiel: Wie merkst Du, dass es an der Haustür klingelt? Hast Du auch Rauchmelder in der Wohnung? Wie kannst Du im Notfall einen Notruf absetzen? Da fängt es dann an, dass die Workshopteilnehmer sich damit beschäftigen, was es eigentlich für ihr Leben bedeuten würde, das Gehör zu verlieren.
Was ist für die Initiative noch geplant?
Janina Kruse: Aktuell bieten wir an zehn Fakultäten regelmäßig Workshops an – an einigen gibt es sogar schon ein Wahlfach zu diesem Thema – da bekommen die Teilnehmer am Ende einen Stempel, der für das Studium auch etwas zählt. Bundesweit wünschen wir uns eine Struktur, die in Zukunft möglichst jeden Medizinstudenten erreicht. Da sind wir gerade im Wachstum und versuchen, das Projekt an möglichst vielen Fakultäten zu etablieren.
Was gibt Ihnen persönlich Ihr Engagement bei „Breaking the Silence“ zurück?
Janina Kruse: Ich finde es großartig zu sehen, wie die Workshop-Teilnehmer den Kulturkreis der Hörgeschädigten entdecken und sich dafür begeistern. Es ist spannend, dass es innerhalb unserer eigenen Kultur viele verschiedene Gruppierungen gibt, die wir im Alltag gar nicht so wahrnehmen. Diese Begeisterung sehe ich auch bei den Teilnehmern. Außerdem gebärde ich wahnsinnig gern und freue mich darüber, dass ich durch mein Engagement viel mehr in Kontakt mit Gehörlosen komme und diese Sprache nutzen darf.
„Breaking the Silence“ ist ein Projekt der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd). Das Projekt wurde im Mai 2014 gegründet.
Mehr Infos unter bvmd.de.