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Jobprofil: Digital Doctor
Immer mehr Start-ups stellen sich den komplexen Herausforderungen im Gesundheitswesen. Um hier erfolgreich innovative und zielorientierte Lösungen zu entwickeln, sind Insider:innen wie Ärzt:innen sehr gefragt. Gleichzeitig suchen immer mehr Mediziner:innen nach spannenden Alternativkarrieren außerhalb der direkten Patientenversorgung.
Trotz dieser vielversprechenden Voraussetzungen ist es für Mediziner:innen gar nicht so einfach in der Start-up Welt Fuß zu fassen und ihr Wissen einzusetzen. Wirft man einen Blick in die medizinische Ausbildung, ist dies nicht überraschend. Die medizinische Ausbildung bereitet trotz Modellstudiengang und Co auf die klinische Versorgung und wissenschaftliche Forschung vor - nicht auf Innovationsmanagement und Engineering.
Gesucht sind “Digital Doctors”, Ärzt:innen, die ihre klinische Erfahrung mit Innovationsgeist und digitalem Geschäftssinn kombinieren. Sie besetzen Positionen wie "Chief Medical Officer", "Medical Director" oder "Medical Expert". Es gibt hierfür noch keine klare, standardisierte Rollendefinition ebensowenig wie es einen etablierten Weg in solche Positionen gibt.
Der typische Joballtag von Ärzt:innen in einem Healthcare-Start-up
Innovation und Digitalisierung bedeutet interdisziplinäres Arbeiten und hohes Tempo. Soweit so gut, das kennen wir Mediziner:innen ja aus der Klinik. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied: In der Klinik wird kaum jemand müde, die scheinbar unendlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen zu betonen. In Tech-Firmen hingegen ist Diversität Voraussetzung, Forderung und Ziel in einem. Digital Doctors müssen eng zusammenarbeiten mit Menschen, die unterschiedliche Mentalitäten und Sozialisierungen mitbringen und teilweise ein völlig anderes Verständnis von Medizin und Wissenschaft haben. Als Digital Doctors interagieren wir täglich mit verschiedenen Teams und Fachbereichen - von Datenwissenschaftler:innen über Produktmanager:innen, UX/UI-Designer:innen, Jurist:innen und gelegentlich auch direkt mit Softwareentwickler:innen. Dabei müssen wir eine gemeinsame Sprache finden, um verstanden zu werden.
Um diese diversen Teams zu unterstützen, benötigen Digital Doctors Fähigkeiten, die in der Patientenversorgung nicht unbedingt erwartet werden. Diese gilt es zu kennen, zu erlernen und lebendig zu halten. Eine Sache bleibt für uns als Digital Doctors aber unverändert: Genau wie in der klinischen Medizin werden wir nie ausgelernt haben. Dank der Digitalisierung verändern sich die Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Anforderungen rasant. Wer sich an einer Karriere im Healthcare Start-up interessiert oder im rasanten Lauf der Digitalisierung mithalten will, findet in dieser Fotostrecke die sechs wichtigsten Fertigkeiten eines Digital Doctors.
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1. Verstehe die Macht deine “Halos”
Als medizinische Autorität im Team musst du dir bewusst sein, dass dein Wort ein unverhältnismäßig großes Gewicht haben kann. Daraus ergibt sich eine große Verantwortung, Fakten nicht mit Meinungen oder Ideologien zu vermischen.
Deine Kernaufgabe als Digital Doctor ist es, deine Teamkolleg:innen zu befähigen, eigene gut informierte Entscheidungen zu treffen. Dafür kannst du dich genau so verhalten, wie wenn du Patient:innen für eine Untersuchung oder einen Eingriff aufklärst. Mache es deinem Team leicht bei allen medizinischen Themen, Fakten von Meinungen zu trennen. Wenn du die verschiedenen Sichtweisen dargelegt hast, kannst du immer noch deine persönliche Meinung darlegen und diese Begründen.
Sei dabei auf der Hut vor Missverständnissen. Vermutlich bist du es gewohnt, Beispiele aus deiner persönlichen Erfahrung mit anderen Ärzt:innen zu teilen. Für deine nichtmedizinischen Kolleg:innen kann es jedoch eine Herausforderung sein, zu verstehen, wie repräsentativ dein Beispiel ist. Wir haben schon einige Ärzt:innen gesehen, die rot wurden, als eine einmalige Klinikanekdote auf einem Foliendeck als verallgemeinerte Wahrheit auftauchte.
Denke daran, dass du den “Fluch des Wissens” hast: du hast so viel medizinisches Wissen erworben, dass du wahrscheinlich vergessen hast, wie es ist, all das nicht zu wissen. Bleib bescheiden und rufe dir immer wieder in Erinnerung, dass du mit brillanten Menschen zusammenarbeitest, die von ganz anderen Hintergründen geprägt sind als du.
Sei dabei am besten ganz proaktiv. Fühle dich auf Augenhöhe mit deinen neuen Kolleg:innen und ermutige alle dazu, viele Fragen zu stellen. Achte im Detail darauf, wie andere ihr Denken strukturieren, welche Informationen für sie wichtig sind und wie sie sich wohl bei komplexen medizinischen Themen fühlen. Ermögliche deinen Kolleg:innen, die Grundlagen der evidenzbasierten Medizin zu verstehen und eine eigene medizinische Grundkompetenz zu entwickeln.
Passe deine Sprache und die Art der Präsentation von Informationen an dein neues Publikum an. Sei so aufmerksam, empathisch und geduldig, wie du es auch mit deinen Patient:innen wärst.
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2. Verstehe, wie digitale Innovation funktioniert
Viele der Fähigkeiten, die du benötigst, um reibungslos mit Innovator:innen zusammenzuarbeiten, sind relativ einfach zu erlernen. Beginne damit Standard-Innovationsansätze wie “Design Thinking”, qualitative Nutzerforschung, “Outcome Driven Innovation” und “Rapid Prototyping” zu lernen. Es gibt eine Fülle von online Kursen und Büchern, auch auf YouTube findest du zahlreiche kostenlose Ressourcen, die dir eine steile Lernkurve ermöglichen. Mach dich außerdem mit alltäglichen Produktivitäts- und Kommunikationstools wie Slack, Zoom, Jira und Confluence vertraut. Die hast du bestimmt schnell gelernt, denn sie sind recht intuitiv.
Was schwieriger zu lernen ist, sind die Grundlagen der Programmierung, des “Internets der Dinge”, wie man Technologien bewerten und was es sonst noch so aus der Welt der Informations- und Computertechnologie zu verstehen gibt. Du könntest einen Kurs in Python besuchen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie Code geschrieben wird. Abonniere einige Technologie- und Data-Science-Newsletter, um mitzubekommen was die Experten gerade bewegt. Wenn du die Möglichkeit hast, frage vielleicht eine(n) Techie aus deinem Team, ob er bzw. sie dich mentoren möchte. Vielleicht findest du auch eine Möglichkeit, eng mit dem Tech Team zusammenzuarbeiten, um über die Praxiserfahrung zu lernen.
Es wird nicht von dir erwartet, dass du in allen Aspekten der Computertechnologie, des Produktmanagements und der Datenwissenschaft brillierst. Du solltest dich aber bemühen zumindest ein Verständnis zu haben, damit du dich schnell mit allen Teams austauschen kannst. Du wirst keine Features alleine entwickeln oder programmieren müssen aber die zuvor genannten Fähigkeiten können wertvoll sein, damit du die Herausforderungen deiner Kolleg:innen im Detail verstehen kannst.
Welche Wissenstiefe von dir verlangt wird, hängt vom Umfang des Unternehmens und den Fähigkeiten der anderen Teammitglieder ab. Klar ist jedoch, je versatiler du bist, desto größer sind deine Möglichkeiten. In einem sich schnell spezialisierenden Bereich kann allerdings die Tiefe schnell wichtiger werden als die Breite.
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3. Bring deine breite Expertise aus dem Gesundheitswesen mit
Natürlich weißt du als Arzt oder Ärztin viel über die Gesundheitsversorgung. Aber welcher Teil deines Wissens ist relevant? Du wirst überrascht sein, wie viele deiner Fähigkeiten in einem Healthcare Start-up leider relativ wertlos sind. Eine detaillierte klinische Untersuchung, einen venösen Zugang mit verbundenen Augen legen zu können oder dein Wissen über Beriberi wird dir vermutlich nicht weiterhelfen.
Du wirst an einer enormen Vielfalt von Themen arbeiten, bei denen deine klinischen Fertigkeiten wenig beitragen. Ohnehin wird dein Fachwissen leider schnell veraltern (wie dieser Vortrag an der Harvard Medical School nahelegt). Das ist aber kein Problem, denn wenn du echte Fachexpert:innen brauchst, kannst du sie auf Stundenbasis hinzuziehen.
Die medizinischen Fähigkeiten, die dich besonders wertvoll machen, ist deine Fähigkeit, komplexe Sachverhalte kritisch zu beurteilen, Epidemiologie zu verstehen, Patientensicherheit voranzutreiben und zu wissen, wie Prävention funktioniert (und wie nicht). Deine Fähigkeit, systematische Reviews durchzuführen, medizinische Statistik anzuwenden und all die anderen wissenschaftlichen Methoden, die Du im Laufe deines medizinischen Werdegangs erworben hast, sind ein entscheidender Vorteil.
Aber es gibt noch weitere, weniger greifbare Vorteile. Nur wenn du ein paar Jahre an der medizinischen Front verbracht hast, hast du ein tiefes Verständnis von den Dynamiken im klinischen Alltag, vom Vokabular und der Kultur der System-Insider:innen. Diese werden dich viel mehr respektieren, wenn du eigene Erfahrungen aus den Nachtschichten, Streitigkeiten bei Intensivverlegungen oder frustrierenden Angehörigengesprächen teilen kannst. Das befähigt dich dazu, Botschafter:in zwischen der Welt der agilen digitalen Produktentwicklung und der deiner ehemaligen klinischen Kolleg:innen zu sein.
Aber auch hier gilt: Bescheidenheit ist der Schlüssel und "viel erfahren zu haben" bedeutet nicht automatisch "viel Erfahrung zu haben". Stell dich immer wieder selbst in Frage und versuche täglich sowohl von den Ärzt:innen als auch von den Gründer:innen um dich herum zu lernen.
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4. Sei ein:e Systemnavigator:in
Nun zu einer wichtigen Fähigkeit, die vielen Mediziner:innen fehlt, da diese einfach nicht im Medizinstudium vermittelt wird. Mediziner:innen haben in der Regel ein großes Verständnis davon, was an der Front der Medizin passiert, wissen aber erstaunlich wenig über Gesundheitsökonomie und die Strukturen, die ihren klinischen Alltag grundlegend bestimmen.
Ein:e Systemnavigator:in zu sein bedeutet, dass du ein Gespür für die Bedürfnisse und Motivationen der verschiedenen Interessengruppen hast. Dazu zählen deine Kolleg:innen, die Krankenhausmanager:innen, aber auch Behörden und alle anderen, die an der Aufrechterhaltung und Gestaltung der Versorgung in deinem Land beteiligt sind. Es ist wichtig, dass du Marktdynamiken verstehst und nachvollziehen kannst wie beispielsweise Marktversagen von “Informationsasymmetrie” über “angebotsinduzierte Nachfrage” dazu führen können, dass Gesundheitssysteme nicht einwandfrei funktionieren.
Erst wenn du diese Welt verstehst, wirst du in der Lage sein, so manche zunächst kontraintuitiv erscheinende politische Maßnahmen besser zu verstehen. Du wirst schneller vorhersehen können, welche neuen Probleme aus einer gesetzlichen Regelungen erwachsen werden. Zu diesem Systemverständnis gehört auch, dass du die wichtigsten Organisationen in deinem Gesundheitssystem gut kennst. Von den Organen der Selbstverwaltung, zu Fachverbänden bis hin zu großen etablierten Unternehmen. Idealerweise gelingt es dir, dass die relevanten Personen in diesen Organisationen auf deine Professionalität und Integrität vertrauen, sodass du dort auch Gehör finden kannst.
Am größten sind die Erwartungen an dich als Systemnavigator:inn, wenn dein Healthcare Start-up an der Entwicklung neuer Apps arbeitet, die einen echten medizinischen Nutzen haben. Dann wirst du nämlich oft nach deiner Meinung zu regulatorischen Anforderungen, Rahmenbedingungen und Richtlinien gefragt, wie z.B. denen der US Food and Drug Administration, dem deutschen Digitalen Versorgungsgesetz oder der neuen Europäischen Medizinprodukteverordnung. Natürlich kannst du kein:e Jurist:in ersetzen, aber du kannst dein Fachwissen in enger Zusammenarbeit mit Anwält:innen und regulatorischen Expert:innen einbringen.
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5. Verstehe und priorisiere aufkommende Trends
Wirklich innovative Unternehmen sind in der Lage zu erkennen, welches Thema und welcher Trend als Nächstes kommt. Sie arbeiten aktiv an der Schaffung dieser neuen Realität. Für Außenstehende kann es jedoch enorm schwierig sein, all die technologischen, wissenschaftlichen, epidemiologischen, demografischen und kulturellen Veränderungen zu verstehen und zu erkennen, wie sie die Pflege beeinflussen.
Wie gut bist du also in der Lage, dir einen Überblick über das zu verschaffen, was in der der Medizin (und außerhalb davon) weltweit geschieht? Wie schnell kannst du beobachten und verstehen, was Konkurrent:innen, Investor:innen, Versicherungsgesellschaften, Forscher:innen und Regierungen tun. Wie unvoreingenommen kannst du beurteilen, ob es für dein Unternehmen sinnvoll ist, auf dieser spezifischen Welle mitzureiten oder nicht?
Wichtig ist auch die Frage, wie viel Zeit du mit Themen verbringst, die nichts mit dem Gesundheitswesen zu tun haben. Je besser du in der Lage bist, unterschiedliche Welten zusammenzubringen, desto schneller wirst du vielleicht wirklich transformative Lösungen finden.
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6. Werde ein guter Manager
Oft werden Digital Doctors für Führungspositionen in Betracht gezogen. Das bedeutet, dass du dich ein wenig mit Prozess- und Projektmanagement auskennen musst. Ehrlicherweise sind nur wenige Ärzt:innen darin erfahren, vor allem wenn es um agile Methoden und Scrum geht. Das kann eine große Herausforderung sein, denn plötzlich musst du eng mit Datenwissenschaftler:innen, Softwareentwickler:innen, qualitativen Forscher:innen und manchmal auch mit Jurist:innen und anderen Berufsgruppen zusammenarbeiten. Am Anfang wirst du selten Klarheit darüber haben, welchen Input du benötigst und welchen Output man von dir erwartet.
Ebenso wirst du jetzt, viel mehr als zuvor, dein strategisches Denken schärfen müssen. Die meisten Ärzt:innen sind gut darin, auf eine Fülle von unerwarteten, alltäglichen Ad-hoc-Problemen in der Patientenversorgung zu reagieren. Als Digital Doctor solltest du vorausschauend denken und Strategien entwickeln, um die Art und Weise deiner Arbeit grundlegend zu verändern.
Gesundheitswarnung
Wenn Du planst, von der Rolle eines klinischen Arztes oder einer klinischen Ärztin zu der eines Digital Doctors überzugehen, wirst du sicher als erstes herausfinden wollen, welche Dinge du lernen musst. Es gibt noch etwas viel Wichtigeres, dass du bedenken solltest: Mache dir klar, was du verlernen musst.
Du hast eine Menge essentieller und massiv beeindruckender Talente erworben. Die Fähigkeit, sich unter Zeitdruck um eine Vielzahl von Patient:innen mit unterschiedlichsten Problemen zu kümmern, ist nur eine davon. Aber einige der Dinge, die dich zu einem oder einer Rockstar-Kliniker:in gemacht haben, werden dich zu einem oder einer dysfunktionalen Digital Doctor machen. Deine zukünftigen Kolleg:innen erwarten viel Kreativität und die Fähigkeit ohne detaillierte Daten (wie z. B. Laborwerte) und ohne klare Richtlinien, Entscheidungen zu treffen und Innovation voranzutreiben.
Auch sind plötzlich all die Fakten, die du in langen Nächten in der Bibliothek und darüber hinaus auswendig gelernt hast, nicht mehr ganz so wichtig. Sie können jetzt recherchiert werden, denn nur selten wird das Wissen über Schlaganfälle oder Herzinfarkte über Leben und Tod entscheiden. Wenn dein Team beispielsweise Funktionen für eine digitale Gesundheits-App entwickelt, werdet ihr gemeinsam Zeit haben, relevante Fakten zu recherchieren und zu überdenken - oder Ihr könnt jemanden stundenweise dafür engagieren. Viel wichtiger ist deine Fähigkeit, komplexe medizinische Sachverhalte zu verstehen und sie in völlig neue Kontexte und Innovation zu übertragen.
Du wirst mit Kolleg:innen zusammenarbeiten, die kulturell und beruflich völlig unterschiedliche Hintergründe haben. Das klinische Umfeld ist im Gegensatz dazu oft sehr homogen. Mach dich auf den Moment gefasst, in dem deine medizinische Denkweise nicht mehr gut ankommt und du dich an eine Fülle von unterschiedlichen Denkmustern anpassen musst.
Die Rolle des Digital Doctors ist trotzdem sehr dankbar. Du kannst einen massiven Einfluss auf die Gesellschaft haben und du wirst für den Rest deiner Karriere immer wieder Dinge lernen, die weit außerhalb deiner Komfortzone liegen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wirst du dich dafür aber beruflich ganz neu erfinden dürfen. Trau dich raus aus dem angeblich “klassischen” Weg. Das Abenteuer lohnt sich. What got you here won’t get you there.