Wie wir waren - Medizin im Wandel

In blumigen Worten beschreibt Herr Siebold dann die Anatomie und das Verletzungsmuster. Das ist beeindruckend und zeigt das Detailwissen, welches den Heilkundigen schon damals zur Verfügung stand. Außerdem ist es gut zu wissen, dass die Ärzte aus vergangenen Tagen auch nicht viel weniger lernen mussten als wir. Weiterhin faszinierend ist, dass der Einwilligung des Verletzten selbst, des Klosterarztes und seines Vorgesetzten eine wichtige Rolle zukommt. Ok, vielleicht fragen wir Ärzte heute nicht den Vorgesetzten eines Betriebsunfallopfers, ob wir auch wirklich behandeln dürfen. Diese Art der Arbeitgeberhörigkeit hat, glaube ich, ein gewisser Herr Bismarck abgeschafft. Bei Frauen mussten früher übrigens deren Männer der Behandlung zustimmen. Irre, oder? Obwohl es solche Umstände sicher in bestimmten Teilen der Welt heute auch noch gibt, kann man sich das in der zivilisierten Gesellschaft doch kaum mehr vorstellen. Ignoriert man aber den Klosterarzt und den Vorgesetzten, so bleibt die klassische informierte Einwilligung, wie wir sie heute noch kennen. Dass die Ärzte damals auch in ethischen Dingen so fortschrittlich waren, finde ich ziemlich beeindruckend.

Aber wie geht es nun mit der Operation weiter? Der Chirurg durchtrennte also das Muskelfleisch und sägte Elle und Speiche an einem Punkt ab, der weit proximal der Hautschnitte lag. Schließlich ist es sinnvoll das ganze Wundbett später mit ein bisschen Haut abdichten zu können. Außerdem ist vom Unterbinden der Schlagadern, also der Arteriae radialis und ulnaris die Rede. Dieses Vorgehen erinnert doch stark an das heutige, oder? Gut, der Nerv war noch nicht als solcher bekannt und identifiziert, aber der kuschelt ja sowieso mit der Arterie und ist sicher gleich mit abgebunden worden. Sehr interessant finde ich außerdem, dass keinerlei Drainagen erwähnt werden, die Haut also einfach zugenäht wurde. Nach vier Wochen ging es dem armen Mönch dann laut Karl Kaspar wieder super. Das würde ich mal als gelungene OP bezeichnen, was? Und das ganz ohne Antibiotikum.

Dem findigen Leser mag aufgefallen sein, dass ein ganz wichtiger Teil der OP fehlt – die Narkose. Und das finde ich wirklich beängstigend. Man stelle sich das nur mal vor. Da wird einem bei lebendigem Leibe die Hand abgeschnitten und man bekommt alles mit. Wenn man bedenkt, dass ich persönlich schon ziemlich große Probleme mit einer Zahnbehandlung ohne das liebliche Lidocain habe, dann muss man unterm Strich schon neidlos anerkennen, dass die Burschen damals einfach die härteren Typen waren. Oder anders gesagt: Diejenigen, die das alles nicht ausgehalten haben, sind halt gestorben. So schlimm das klingt, so wahr ist es leider. Vielleicht einer der Gründe, weshalb man damals nicht wirklich sehr alt geworden ist. Insofern ist es doch erstrebenswert im Hier und Jetzt zu leben und die Errungenschaften der modernen Gesellschaften zu genießen. Wenn wir also das nächste Mal über die unsicheren Zeiten wettern, in denen wir leben, ist es sicher sinnvoll, sich auf Karl Kaspar und seinen vögelmordenden Mönch zurückzubesinnen, um daraus ein wenig Dankbarkeit für den Komfort unserer Zeit abzuleiten. 

Ich freue mich schon auf den nächsten historischen Vergleich und wünsche euch allen eine schöne Woche. 

Euer Falk

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Vita

geboren 1984, arbeitet Falk Stirkat seit 2010 als Arzt. Seiner anfänglichen Tätigkeit in einer großen chirurgischen Klinik ging das Studium der Humanmedizin an der renommierten Karl-Universität voraus. Es folgten Ausbildungszeiten in Notaufnahme und Intensivstation. Heute arbeitet der Autor als Leiter einer großen Notarztwache. Von seinen Erfahrungen als Notarzt erzählt er in seinen Büchern ich kam, sah und intubierte und 111 Gründe, Arzt zu sein.

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