Wie wir waren - Medizin im Wandel

Exklusiv bloggt der Spiegel-Bestsellerautor Falk Stirkat für Operation Karriere. Er erzählt über seinen spannenden Alltag als Notarzt und riskiert einen Blick in die chirurgischen Praktiken vergangener Zeiten. Heute: Wie hat man im 18. Jahrhundert eigentlich eine Hand amputiert?

Hier bloggt Falk Stirkat

Hallo liebe Leser, 

die Medizin ist bekanntermaßen kein neues Fach, sie ist nicht erst vor ein paar Jahren aus den Puppen gekrochen, sondern alt, richtig alt, hornbeinalt. Seitdem es Menschen gibt, existieren die passenden Krankheiten – und mit ihnen diejenigen, deren Bestreben es ist sie zu heilen und/oder leiden zu lindern. Ich wage sogar zu behaupten, dass die Heilkunst noch älter ist als die Prostitution, von der man ja gemeinhin sagt, sie sei das älteste Gewerbe der Welt. In Anbetracht der unglaublich langen Zeit, in der Menschen immer wieder versucht haben auf die eine oder andere Art einander zu helfen, wäre es doch in der Tat ziemlich spannend mal zu analysieren, wie man die üblichen Krankheitsbilder der Notfallmedizin, die ja ihrerseits auch nichts Neues sind, früher therapiert hat. Der Klassiker sollte hier der Aderlass bei Hypertonie sein. Aber wie stellte man die überhaupt fest? Waren die heutigen Krankheitsbilder ohne die Mittel der modernen Medizin eigentlich als solche erkennbar?

Dieses Mal will ich mich mit einem Notfall beschäftigen, dessen Existenz zweifellos schon vor sehr langer Zeit genau als solche bekannt war: der heute eventuell nicht mehr ganz so häufigen Handverletzung durch Flintenschuss. Starten wir also mit dem augenfälligsten Unterschied: Wer ballert denn im modernen Europa noch mit einer Flinte durch die Gegend? Die Briten vielleicht, aber die gehören ja nicht mehr dazu. Heute entstehen Handverletzungen wahrscheinlich am ehesten durch den Einsatz von Messern oder Pistolen – oder als klassische Arbeitsunfälle. Aber Flinten? Eher nicht. Werfen wir doch mal einen Blick ins 18. Jahrhundert. Der Chirurg Karl Kaspar von Siebold entschied sich damals seine Methoden in Form von Tagebucheinträgen für die Nachwelt (oder auch nur für sich selbst, wer weiß das schon genau) festzuhalten. In einem dieser Beiträge beschreibt der Bursche, wie ein 32-jähriger Mönch mit einer doppelläufigen Jagdflinte versucht, Vögel vom Himmel zu pusten. Dumm für den guten Mann, dass der Schuss nach hinten losgeht und ihm die Hand zerfetzt.

Amputation einer Hand, deren Knochen und Bänder von einer zersprungenen Flinte zerschmettert und zerrissen waren. 

Ein 32 jähriger Klostergeistlicher schoss mit einer doppelt geladenen Flinte nach Vögeln. Der heftige Knall erschreckte die anderen Geistlichen im Chore, und der zersprungene Lauf zerschmetterte und zerriss dem Vögelmörder die Knochen und Bänder der Handwurzel (carpus), der Mittelhand (metacarpus) und des vorderen Teiles vom Vorderarme so heftig, dass der Klosterwundarzt, welcher im siebenjährigen Kriege bei der kaiserlichen Armee als Feldscherer* gedient hatte, die Amputation gleich zur Rettung des Lebens für notwendig hielt, und in dieser Absicht mich selbst zu dem Unglücklichen abholte und führte. 

Ich fand den Daumen von der Handwurzel abgerissen und nur ein wenig noch an der Hand hängend. Die Knochen der Handwurzel lagen durcheinander und voneinander getrennt. Die Bänder der Handwurzel und der Mittelhand waren durchgehend zerrissen, die Sehnen des hoch und tief liegenden Muskels entblößt, das Gelenk der Handwurzel zertrennt, die Enden der Speiche, des Ellenbogens und der Handwurzel ganz frei, und die Haut selbst so zerrissen und verdorben, dass ein Laie in der Kunst mit Grund die Amputation für das einzige Rettungsmittel leicht hätte halten können. 

Mit vollkommener Einwilligung des Kranken, seiner Klosterobrigkeit und seines Arztes unternahm ich die Amputation a deux terms*. Zuerst nämlich durchschnitt ich durch einen Zirkelschnitt die Haut rings umher drei Zoll breit von dem Handgelenk. Dann drückte ich die Haut einen Viertelzoll breit zurück, und durchschnitt die Muskeln und Flechten bis auf die Knochen. Nach der Absägung der Knochen und nach der Unterbindung der Pulsadern, der Speiche und des Ellenbogens, zog ich die Haut wieder vor, und drückte sie mit Heftpflaster an das Flechtige an. Nach vier Wochen war der Kranke vollkommen geheilt und die Einsparung der Haut trug ein Merkliches dazu bei. 

*ungelernter Landarzt

*in zwei Schritten

Quelle: Karl Kaspar Siebold´s Chirurgisches Tagebuch: mit 6 Kupfertafeln, Autor: Karl Kaspar von Siebold, Grattenauer Verlag, Nürnberg 1792, S. 134-136

Der Mönch hätte sich bestimmt gewünscht im 21. Jahrhundert zu leben, wo hochspezialisierte Handchirurgen versuchen könnten den größten Schaden zu richten. Er musste aber leider mit unserem Karl Kasper vorlieb nehmen, der, nach Rücksprache mit dem Klosterarzt, einem altgedienten Militärmediziner, keine andere Möglichkeit sah, als die Hand des armen Mönchs zu amputieren. Stellen wir hier also den zweiten, sehr eindeutigen Unterschied zu heute fest: Man würde doch erstmal versuchen eine handerhaltende Vorgehensweise in Betracht zu ziehen. Das liegt aber nicht nur an der feineren Technik, den hocheffektiven Lupenbrillen und der großen Expertise heutiger Handchirurgen. Eine ganz wesentliche Gefahr bei derartigen Verletzungen stellen nämlich die Infektionen der Handkompartimente mit daraus folgender Druckerhöhung und Komprimierung der dort befindlichen, winzigen Arterien dar. Auf gut deutsch: Die Hand stirbt ab, wenn sie sich infiziert. Ja, und was gab es im 18. Jahrhundert noch nicht? Klar, Antibiotika. Ein guter Grund dafür eine Amputation primär in Betracht zu ziehen, finden Sie nicht? Manchmal muss man eben doch einen sauberen Schnitt machen.

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