Mein Tag als Notarzt an Karneval

Bereitschaftsdienst an Karneval, da denken viele an blutende Nasen, zerbrochene Flaschen und Alkoholleichen. Aber es kann auch ganz anders kommen. So entspannt verlebte Dr. Tommaso Coin Weiberfastnacht in Köln im vergangenen Jahr.

Als die erste Patientin ins Sanitätszelt gebracht wird, sind schon mehr als drei ruhige Stunden verstrichen. Dr. Coin hat sich mit den Sanitätern unterhalten, die Morgensonne genossen. Er ist eigentlich mehr Nachteule als Frühaufsteher. Damit er länger schlafen kann, hat er am Vortag alles vorbereitet: Den Tagesproviant, die Notarzt-Bekleidung. Als der Wecker um 7.20 Uhr klingelt, steigt er verschlafen in Hose und Stiefel, putzt die Zähne und setzt sich aufs Rad. Sein Wachmacher ist kein heißer Espresso, sondern die kühle Morgenluft. 

Die Patientin ist Anfang Siebzig. Sie will nicht, dass eine Infusion gelegt wird. Auch die Einweisung in das Klinikum hält sie für überflüssig, wo sie der Tochter und der Enkelin damit den ganzen Tag verderben würde. Die Sanitäterinnen versuchen sie zu überzeugen, auch die Tochter redet ihr gut zu. Schließlich ergreift der Rettungsassistent das Wort. Er ist ein alter Haudegen, seit über 30 Jahren im Einsatz: „Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Auto mit 4 Zylindern und einer ist kaputt. Bis Essen kommen Sie noch, aber danach heißt es Totalschaden. Sie wollen doch, dass ihre Tochter und ihre Enkelin noch etwas von Ihnen haben.“ Klare Worte, die überzeugen. Die Patientin willigt ein und Dr. Coin, der die direkte Ansprache seines Kollegen mitgehört hat, lächelt.  

"Ich bin der Joker"

Auch bei der Übergabe mit dem Fahrer des Krankenwagens spricht nicht Dr. Coin, sondern der Rettungsassistent. Einweisung ins Klinikum, um einen Akutinfarkt auszuschließen. Blut im Labor untersuchen, EKG-Test durchführen. Ein Vorhofflimmern sei bei der Dame aufgetreten, sagt der Rettungsassistent. Jetzt schaltet sich Dr. Coin ein: „Wir wissen nicht, wann das Vorhofflimmern begonnen hat.“ 

Es macht einen Unterschied, erklärt er später, ob ein Vorhofflimmern gerade erst eingesetzt hat oder seit Wochen besteht. Die Kollegen im Krankenhaus behandeln dann anders. Er hat sich erst zu Wort gemeldet, als es unbedingt notwendig war. Ansonsten hält er sich zurück. Die Sanitäter und Sanitäterinnen sind aus Nürnberg zusammen mit dem Kleinbus angereist und perfekt aufeinander eingestellt. „Ich bin der Joker“, sagt Dr. Coin. 

Als die Patientin abtransportiert ist, kehrt wieder Ruhe ein im Sanitätszelt. Ein Jugendlicher, der mit seinen Freunden unterwegs ist, ruft: „Danke, dass ihr auf uns aufpasst.“ Vom nahen Heumarkt wird der Gesang der Feierenden hochgeweht. Dr. Coin setzt sich auf eine der Krankentragen vor das Zelt. Er ist 29 Jahre alt, gebürtiger Italiener. Als er seine jetzige Frau auf Gran Canaria bei einer Party kennenlernte, studierten sie beide noch Medizin. Die Fernbeziehung hielt, er schrieb sein Examen in Italien und stieg am nächsten Tag in den Flieger nach Köln.  

„Ist ein Arzt an Bord?“ Auf einer Flugreise kann dieser Hilferuf einen Arzt oder anderes medizinisches Personal spontan aus der Urlaubsstimmung herausreißen. Aber nicht alle Ärzte sind auf so eine Notsituation vorbereitet. Mit einem YouTube-Video wollen kanadische Notärzte Abhilfe schaffen.

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Jetzt holt er sein Heft heraus, und blättert die mit medizinischen Begriffen und Therapiearten beschriebenen Seiten durch. Immer, wenn ihm ein neuer deutscher Fachbegriff über den Weg läuft, schreibt er ihn auf. Je pointierter er mit Kollegen und Patienten sprechen kann, desto besser. 

Er hat erst vor vier Jahren damit begonnen, Deutsch zu lernen. Wenn er das Fremden sagt, ist das Erstaunen oft groß. Man würde eher vermuten, dass er mindestens ein Jahrzehnt hier lebt, so fehlerfrei spricht er. Um möglichst schnell zu lernen, hat er mit seiner Freundin nach der Ankunft in Köln eine Vereinbarung getroffen: Wir sprechen bis 18 Uhr nur Deutsch miteinander, auch wenn uns die Subjekt-Prädikat-Sätze auf Kleinkind-Niveau den letzten Nerv rauben. Der Plan ging auf: Nach acht Monaten bestand er die Fachsprachenprüfung in Düsseldorf. Seitdem darf er als Arzt in Deutschland arbeiten.

Das nächste Karriereziel: Bergretter in Garmisch-Patenkirchen 

Am frühen Nachmittag ziehen Wolken auf, der Alkoholpegel in der ganzen Stadt steigt weiter an. Es bleibt dennoch ruhig. Ein paar Jecken kommen zur Ausnüchterung, ein paar andere Leiden werden behandelt. Am Abend kümmert sich Dr. Coin um einen siebzehnjährigen Jungen mit Platzwunde am linken Auge. Der Junge zittert, will sich in der Liege immer wieder aufsetzen. Dr. Coin drückt ihn zurück: „Jetzt beruhigst Du Dich!“, sagt er in einem verbindlichen Tonfall. 

Trotz dieser verhältnismäßig ereignisarmen Stunden bereut er auch an diesem Tag seine Berufswahl nicht. Schon als Jugendlicher bewunderte er die Notärzte der Bergrettung, die sich bei Schnee und Eis aufmachen. Als er sich bei einem Skiunfall selbst zwei Wirbel bricht und gerettet wird, denkt er: Das will ich auch machen. Die Arbeit als Bergretter in Garmisch-Patenkirchen steht auf seiner beruflichen To-Do-Liste ganz oben. 

Rettungswagen

Wer später als Notarzt Einsätze fahren möchte, benötigt den so genannten Notarztschein. Voraussetzung hierfür ist eine entsprechende Ärztliche Zusatz-Weiterbildung in der Notfallmedizin.

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Und dann ist da noch dieser Unfall in Marrakesch, an denen er denken muss, wenn man ihn nach seiner Berufswahl fragt. Er wartet in einem Mietauto vor einer roten Ampel. Es ist drei Uhr am Morgen, sein Flieger hebt bald ab. Links schlängelt sich ein Junge auf einem Mofa an ihm vorbei. Einen Helm trägt er nicht und rote Ampeln sind nicht für ihn gemacht. Weder der junge Mofafahrer, noch der Fahrer des Renault Scenic sehen sich rechtzeitig. Der Junge fliegt durch die Luft und schlägt auf den Straßenbeton auf, der Fahrer des Renaults drückt aufs Gas, braust mit aufheulendem Motor davon. 

Niemand ist auf der Straße, außer Dr. Coin, damals noch Medizinstudent Tommy. Er verstellt die Straße mit seinem warnblinkenden Auto. Sucht nach Warnwesten, Einmalhandschuhen, einem Verbandskasten. Nichts da. Er läuft zu dem Jungen. Er blutet aus den Ohren, schnappt nach Luft, ist nicht ansprechbar. Endlich hält ein vorbeifahrendes Taxi. Es geht darum, die Wirbelsäule des Jungen zu stabilisieren und auf den Krankenwagen zu warten. Es schockiert Tommy, dass er nicht mehr tun kann. Er nimmt sich in diesen bangen Minuten des Wartens vor, so viel zu lernen, dass er bei jedem Notfall die bestmögliche Hilfe leisten kann. 

Nach 12,5 Stunden ist sein Dienst an diesem Weiberfastnacht-Donnerstag beendet. Er radelt nach Hause, um mit seiner Frau zu Abend zu essen. Im Flur begrüßen sie sich leise, die elf Monate alte Tochter schläft seit kurzem sehr unruhig. „Wie war es?“, fragt sie ihn später beim Essen. Er arbeitet noch kein halbes Jahr als Notarzt in Köln, aber in einem seiner Dienste her er bereits drei Suizide dokumentieren müssen: „Es war nicht viel los!"

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