Du bist promovierter Arzt und hast einige Jahre im Krankenhaus gearbeitet. Im September 2017 bist du zu Smart Helios gewechselt, einem Entwicklungslabor für digitale Gesundheitsanwendungen des Helios-Konzerns. Was war der Grund für den Wechsel?
Ich bewundere meine Kollegen, die ihre Karriere dem Krankenhaus widmen. Für mich war jedoch schon während des Medizinstudiums klar, dass ich nicht ewig am Krankenbett arbeiten werde. Dennoch war es mir wichtig, zuerst praktische Erfahrung "an der Front" zu sammeln. Das hatte ich auch offen so bei meinem Bewerbungsgespräch im Behring-Krankenhaus in Berlin kommuniziert und wurde von meinem Chef und Kollegen immer gut unterstützt. Der Wechsel war nicht leicht, denn ich arbeitete in einem großartigen Team. Aber mir war es wichtig, konzeptionell zu arbeiten und die Probleme, die ich in unserem System sehe, auch an der Wurzel angehen zu können. Technologien ermöglichen es,
Was hat dich bei deiner klinischen Arbeit am meisten gestört?
Grundsätzlich ist eine Karriere in der Patientenversorgung hochgradig befriedigend. Es gibt gute Gründe, warum so viele Medizin studieren möchten. Aber die direkte Wirkung, die man als Kliniker in unserem System haben kann, ist deutlich geringer, als Viele annehmen: Wir können immer nur einen Patienten gleichzeitig behandeln — klinische Arbeit "skaliert" nicht, im Gegensatz zu innovativer Forschung oder gesundheitspolitischen Änderungen. Wer Arzt wird, hat bereits einige Hürden gemeistert und stellt sich tagtäglich einem sehr fordernden Beruf. Gleichzeitig vergeuden Ärzte viel Zeit mit administrativen Aufgaben. Ich glaube, dass viele meiner Kollegen mit ihren diversen Talenten außerhalb der Patientenversorgung viel mehr für die Gesellschaft bewegen könnten. Dort kann man oft auch viel kreativer und selbstbestimmter Arbeiten, was mir persönlich im Klinikum oft fehlte.
Wie sieht dein Arbeitsalltag jetzt aus?
Ich verantworte als Mitglied der Erweiterten Geschäftsführung von Smart Helios das Data Science Team, das Qualitätsmanagement für Medizinische Software-Entwicklung und bringe Kernaspekte der evidenzbasierten Medizin in die Strategie- und Produktentwicklung ein. Dazu gehören neben den typischen Management-Aufgaben auch viele Termine mit externen Innovatoren und Experten aus der "traditionellen" Welt der Medizin.
Gibt es ein Projekt bei Smart Helios, dem du eine besonders große Breitenwirkung einräumst?
Unsere Firma ist erst wenige Monate alt und wir müssen unsere Hypothesen erst beweisen. Momentan konzentrieren wir uns auf Patienten mit Kolonkarzinom. Wir entwickeln Funktionen, die es Patienten ermöglichen, mehr Kontrolle über ihre Erkrankung und die Prozesse zu erlangen. Dabei ist uns wichtig, dass wir jederzeit auch für die Ärzte einen Mehrwert schaffen, etwa durch gut vorbereitete Patienten. Über einzelne Features kann ich jetzt noch nicht sprechen, aber ich kann schon mal verraten, dass wir Krankheit nicht nur als reinen pathophysiologischen Prozess, sondern auch als prägenden Teil einer Lebensgeschichte sehen. Deswegen versuchen wir unter anderem gerade zu verstehen, wie wir auch emotionale Bedürfnisse technologiegestützt besser bedienen können.
In welchem Bereich siehst du das größte Potenzial für E-Health in Deutschland, was die tatsächliche Machbarkeit in den nächsten Jahren angeht?
Ich bin überzeugt, dass es im deutschen Gesundheitswesen noch viele niedrig hängende Früchte zu pflücken gibt. In meiner Wahrnehmung wird das größte Potenzial in den kommenden Jahren weniger durch ausgefeilte Entscheidungsunterstützungssysteme oder Prädiktionsalgorithmen gehoben, sondern vielmehr durch eine Verbesserung der Kommunikation zwischen Patienten und Dienstleistern bzw. über Sektorengrenzen hinweg. Auch werden wir viele Ressourcen frei machen können, wenn wir endlich die unzähligen administrativen Tätigkeiten automatisieren, sodass Ärzte sich auf das Wesentliche, nämlich ihre Patienten, konzentrieren können.
Dass sensible Gesundheitsdaten in falsche Hände gelangen, ist eine große Sorge vieler Menschen und wohl auch ein Grund, warum sich die Digitalisierung des Gesundheitswesens eher langsam vollzieht. Kritiker sagen: „Zu hundert Prozent werden unsere Gesundheitsdaten nie sicher sein, also bleiben wir lieber offline!“ Wie antwortest du darauf?
Diese Diskussion finde ich oft undifferenziert. Das vergleichbar platte Gegenargument hierzu lautet: „Datenschutz ist nur etwas für Gesunde.“ Es gibt Menschen, die von Arzt zu Arzt laufen und doch nicht die Hilfe erhalten, die sie suchen. Da könnte eine bessere Vernetzung oder Unterstützung durch intelligente Computer durchaus helfen. Ich wünsche mir daher, dass diese Debatte in Zukunft weniger auf Allgemeinplätze zurückgreift und statt dessen konkreter geführt wird. Nicht alle Gesundheitsdaten sind gleich sensibel: Wenn ich beispielsweise eine Penizillin-Allergie hätte, würde ich mir wünschen, dass das möglichst viele wüssten, bei einer Schizophrenie wäre es mir lieber, wenn das mein Geheimnis bleiben würde. Eine kluge Datennutzung kann nicht nur die Sicherheit und Behandlungsqualität einzelner Patienten verbessern, sondern über Forschung auch den gesellschaftlichen Fortschritt ankurbeln. Auf der anderen Seite steht die grundsätzlich berechtigte Sorge um unsere Persönlichkeitsrechte. Letztlich geht es, auch in der neuen Datenschutzgrundverordnung, darum, Nutzen und Risiken klug abzuwägen. Nichts anderes tun Patienten und Ärzte im klinischen Alltag: Jeder aufklärungspflichtige invasive Eingriff besteht aus einer gründlichen Darlegung von erwartetem Nutzen, möglichen Risiken und Alternativen. Ich glaube, dass die heutigen Technologien einen ausgezeichneten Datenschutz ermöglichen, sofern man sie auch einsetzt, natürlich. Ein Rest-Risiko wird sicher niemand ausschließen. Deswegen ist es wichtig, dass wir eine gut informierte Entscheidung auf Grundlage von differenzierten Überlegungen treffen.
Gerade im Krankenhausalltag sind Ärzte heute noch viele Stunden mit bürokratischen Aufgaben beschäftigt. Wird ein Arzt in 10 Jahren keine Anträge mehr per Hand ausfüllen müssen?
Davon bin ich überzeugt. Wir hören ständig von einem relativen Ärztemangel. Die Patienten im Krankenhaus fragen sich häufig: „Wo sind denn eigentlich alle?“ Ich will gar nicht wissen, wie viele Stunden meines Lebens ich damit verbracht habe, mich durch Berliner Krankenhäuser zu telefonieren, um andere Ärzte bei der Arbeit zu stören, damit diese mir den letzten Arztbrief eines Patienten ausdruckt und faxen würden, den ich dann wiederum abdiktieren würde, damit eine Schreibkraft ihn in unser Computersystem eintippt. Ich habe noch keine Medizinstudierende kennengelernt, die das Studium aus Liebe zu Bürokratie gewählt haben. Auch betriebswirtschaftlich finde ich es unverständlich, wieso man so spezialisierte Kräfte mit eigentlich gut automatisierbaren Tätigkeiten in ihrem Alltag stört.
Was wird sich für Ärzte außerdem ändern? Wird ihr Rollenverständnis ein anderes werden, weil z.B. Medizininformatiker bei der Diagnosefindung immer wichtiger werden? Sind Ärzte des 21. Jahrhunderts weniger Experten eines Fachgebiets und mehr Teamplayer?
Ich habe keine Zweifel, dass sich das Rollenbild des Arztes in vielerlei Hinsicht verändern wird. Dabei glaube ich nicht, dass Ärzte in absehbarer Zeit ersetzbar werden. Klar werden Computer viel ihrer Arbeit übernehmen, aber vor allem da, wo Ärzte sowieso nicht ihre Kernkompetenz sehen, zum Beispiel in administrativen und repetitiven Tätigkeiten. Das, was uns als Mediziner im Kern ausmacht, nämlich den Umgang mit den Patienten, die körperliche Untersuchung, das vertrauensvolle Gespräch, die kritische Auseinandersetzung mit den Befunden, etc., das wird sicherlich noch eine ganze Weile unsere menschliche Kernkompetenz bleiben. Aber auch damit kommen neue Anforderungen an uns Ärzte. Sicherlich brauchen wir eine bessere digitale Alphabetisierung, um mit den kommenden Technologien besser umgehen und unsere Patienten auch hier professionell beraten zu können. Aber vor allem wird reines quantitatives Faktenwissen in der Bedeutung eher zurück gehen und statt dessen erzeugen wir Mehrwert dadurch wie wir mit Informationen umgehen, sie gewinnen und einordnen. Und ich sehe eine Chance, dass Ärzte insgesamt eine größere gesellschaftliche Wirkung entfalten können. Ärzte lernen in ihrer Arbeit so viel über gesellschaftliche Probleme, haben aber relativ wenig Möglichkeiten, diese Erfahrungen in gesellschaftliche Diskurse einzubringen. Sie haben eine großartige Chance, die Entwicklungen der nächsten Jahre mit zu prägen, indem sie sich aktiv in den Diskurs einbringen.
Sven Jungmann ist promovierter Arzt und hat einen Master in Public Health und einen zweiten Master in Public Policy. Im März 2017 listete das Handelsblatt ihn unter den 100 Innovatoren Deutschlands. Nachdem er einige Jahre in dem Berliner Behring-Krankenhaus arbeitete, wechselte er im September 2017 zu Smart Helios