"Ich denke, es ist wichtig, dass die Alternativen zur klassischen Ausrichtung der Medizin früher an die Reihe kommen – auch im Studium", leitete Croissant seinen Vortrag ein – dabei spielte er darauf an, dass sein Auftritt aus terminlichen Gründen vorverlegt worden war.
Trotzdem sei eine fundierte somatische Ausbildung auch in seinem Fach von Vorteil. Schließlich bekomme man es mit vielen psychosomatischen Beschwerden zu tun und es müsse immer abgeklärt werden, ob körperliche Ursachen dahinter stecken, erklärte der Psychiater. Er selbst habe sich zu Beginn seiner Laufbahn eher für Orthopädie interessiert, verriet er.
Der ganze Mensch als Patient – und sein Umfeld
Besonders interessant sei an der Psychiatrie, dass man nicht nur ein bestimmtes Körperteil des Patienten betrachte, sondern den ganzen Menschen und sein Umfeld: Man müsse auch den beruflichen und familiären Kontext mit einbeziehen. Dabei sei das Berufsfeld der Psychiatrie und Psychotherapie sehr breit gefächert: Es umfasse die Vorbeugung und Diagnose, aber auch die Behandlung und die Rehabilitation von psychischen Erkrankungen und Störungen. Dabei spielen auch körperliche und toxische Aspekte eine Rolle – zum Beispiel bei der Behandlung von Suchterkrankungen. Hier helfe eine fundierte allgemeinmedizinische bzw. internistische Ausbildung.
Croissant ging auch auf die forensischen Aspekte der Facharztrichtung ein: So seien Psychiater auch bei der Begutachtung und Therapie von Straftätern involviert: Ein besonderer Tätigkeitsbereich sei der Maßregelvollzug für Täter, die unter dem Eindruck einer psychischen Erkrankung straffällig geworden seien. Hier stehe die Behandlung im Vordergrund – allerdings sei die Straftat so schwerwiegend, dass ein Gericht Sicherungsverwahrung für den Täter angeordnet habe. "Aber auch, wenn zum Beispiel jemand in einer manischen Phase für viel Geld Kaufverträge abgeschlossen und Schulden gemacht hat, beurteilt ein Psychiater für das Gericht die Zurechnungsfähigkeit", erklärte der Experte.
Wachstumsbereiche innerhalb der Psychiatrie seien die Gerontopsychiatrie und die Betreuung von Patienten in Tageskliniken: "Die Umwandlung von stationären Bereichen in teilstationäre und ambulante Bereiche ist bei uns gerade ein großes Thema", sagte Croissant.
Das Ziel der Facharztweiterbildung sei neben der fachlichen Kompetenz auch eine methodische und persönliche Kompetenz, erklärte der Psychiater. Er listete auf, welche Weiterbildungszeiten und -inhalte von den Nachwuchsärzten absolviert werden müssen, um die Facharztkompetenz zu erreichen. Insgesamt dauere die Facharztweiterbildung 60 Monate:
- darunter 24 Monate stationäre psychiatrische und psychotherapeutische Patientenversorgung
- 12 Monate Neurologie
- bis zu 12 Monate in der Schwerpunktweiterbildung
- bis zu 12 Monate Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Psychosomatik, Innere medizin, Allgemeinmedizin oder neurochirurgie oder neuropathologie
- bis zu 24 Monate im ambulanten Bereich
Die Inhalte im Detail
Den genauen Ablauf der strukturierten Weiterbildung im allgemeinen Psychiatrie-Teil erklärte Croissant noch detaillierter:
- 60 supervidierte und dokumentierte Erstuntersuchungen
- 60 Doppelstunden Fallseminar in allgemeiner und spezieller Psychopathologie mit Vorstellung von zehn Patienten
- 10 Stunden seminar über standardisierte Befunderhebung
- Durchführung, Befundung und Dokumentation von 40 abgeschlossenen Therapien unter kontinuierlicher Supervision
- 40 Stunden Fallseminar über die pharmakologischen und anderen spmatischen Therapieverfahren einschließlich praktischer Anwendungen
- 2-monatige Teilnahme an einer Angehörigengruppe unter Supervision
- 40 Stunden praxisorientiertes Seminar über Sozialpsychiatrie und Gutachten aus den Bereichen Sozial-, Zivil- und Strafrecht
Zum speziellen Psychotherapie-Teil der Weiterbildung gehören folgende Inhalte:
- 100 Stunden Seminare, Kurse, Praktika und Fallseminare über theoretische Grundlagen der Psychotherapie
- 16 Doppelstunden autogenes Training oder progressive Muskelentspannung oder Hypnose
- zehn Stunden Seminar und sechs Behandlungen unter Supervision in Kriseninterventionen, supportiven Verfahren und Beratung
- zehn Stunden Seminar in psychiatrisch-psychotherapeutischer Konsil- und Liaisonarbeit unter Supervision
- 240 Therapie-Stunden mit Supervision nach jeder vierten Stunde
Ein wichtiger Teil der Facharztweiterbildung sei auch die Selbsterfahrung: Vorgeschrieben seien 150 Stunden Einzel- oder Gruppenselbsterfahrung und 35 Doppelstunden Balintgruppenarbeit oder interaktionsbezogene Fallarbeit. "Bei der Selbsterfahrung lernen Sie sehr viel über sich selbst", verriet Croissant. Daher stehe das auch erst gegen Ende der Weiterbildung auf dem Programm.
Operation Karriere Hamburg, 14.06.2019, "Karriereperspektiven – Facharztausbildung in der Psychiatrie", Prof. Dr. Bernhard Croissant, M.A., Ärztlicher Direktor, AMEOS Klinikum, Osnabrück