Ich kam, sah und bloggte – Aus dem völlig verrückten Leben eines (Not)arztes.

Exklusiv bloggt der Spiegel-Bestsellerautor Falk Stirkat für Operation Karriere. Er erzählt über seinen spannenden Alltag als Notarzt und riskiert einen Blick in die chirurgischen Praktiken des 18. Jahrhunderts. Heute: Über einen Reisenden mit Verdacht auf Herzinfarkt.

Hier bloggt Falk Stirkat

Hallo liebe Leser, 

wisst Ihr, was in einem 24-Stundendienst das Schlimmste ist? Das sind nicht etwa die vielen Stunden, die man am Stück in Bereitschaft sein muss. Nein, das ist oft – und mit den richtigen Kollegen – eigentlich ganz amüsant. Auch sind es nicht die anspruchsvollen Einsätze, bei denen man ein, manchmal sogar zwei Stunden lang unterwegs ist und sich hochgradig konzentrieren muss. Was so richtig nerven kann, sind die Fahrten, die zur so genannten Unzeit anfallen, nämlich so zwischen 23:00 und, sagen wir, 05:00 morgens. Das ist naturgemäß der Zeitraum, in dem sich ein normaler Mensch dem dringend benötigten Schönheitsschlaf hingibt. Geht in dieser Zeit also der Melder auf, dann heißt es: von Tiefschlaf auf höchste Konzentration in zwei Minuten. Eine bis wir im Auto sitzen und eine (manchmal natürlich mehr) bis wir am Ort des Geschehens angekommen sind. Auch letzte Woche musste ich mitten in der Nacht hellwach sein, denn ein ‚Reisender’ brauchte dringend unsere Hilfe. Der Mann war quer durch die Republik unterwegs und weil er sich die täglichen Staus auf den Autobahnen, meist verursacht durch eine völlig idiotische Anordnung verschiedenster Baustellen, nicht antun wollte entschied er eben seine Reise des Nachts anzutreten. Clever, was? Leider schaffte er nur ungefähr die Hälfte der Strecke, denn ein starker Brustschmerz zwang ihn die nächste Autobahnraststätte anzufahren und um Hilfe zu bitten. Tja, und die kam auch – und zwar in Form meines Teams und mir. Nachdem wir den Erkrankten ein paar Minuten gesucht hatten (es ist nachts unvorstellbar viel los auf solchen Rastplätzen), fanden wir sein Auto dann etwas abseits geparkt. Sein gequältes Gesicht zeugte von Dankbarkeit dafür, dass sich endlich einer seiner annahm. 

Nachdem wir den Patienten aus seinem in unser Auto transportiert hatten, erklärte mir Herr Degen, so sein Name, was genau los war. Demnach hatte der Mann bereits vor zehn Jahren einen Herzinfarkt erlitten und empfinde jetzt erneut Brustschmerzen. Die, so berichtete er, seien zwar anderer Natur als seine Beschwerden damals, aber trotzdem, man wüsste ja nie, und außerdem ist die Sache auch schon ganz schön lange her. 

Recht hatte er. Mit Brustschmerzen ist nie zu spaßen. Insbesondere dann, wenn bereits eine Herzerkrankung vorliegt, können derartige Beschwerden jeder Zeit einen neuen Schub ankündigen. Da muss man auf Nummer Sicher gehen. Zum Glück zeigten alle durchgeführten Untersuchungen keine Auffälligkeiten. Auch das EKG, die Ableitung der elektrischen Herzströme, war völlig in Ordnung, sodass ich dazu überging Herrn Degen nochmals genau zu untersuchen. Ich tastete alle möglichen Schmerzpunkte ab, die uns Hinweise auf eine muskuläre Ursache der Beschwerden geben können und siehe da – als ich am Rücken angekommen war schrie unser Patient auf.
„Aua. Genau dort tut es furchtbar weh!"
„Haben Sie denn in letzter Zeit körperlich schwer gearbeitet oder etwas Schweres gehoben."
„Ich habe vorgestern meiner Tochter beim Umzug geholfen", antwortete Herr Degen.

Obwohl ein Herzinfarkt nach dieser neuen Erkenntnis natürlich nicht ausgeschlossen war, reduzierte das die Wahrscheinlichkeit enorm, dass ein entsprechendes Problem tatsächlich hinter Herrn Degens Beschwerden steckte. Und das wiederum erleichterte mir die Auswahl des richtigen Krankenhauses. Denn hätte es sich mutmaßlich um einen Infarkt gehandelt, dann wäre das nächste städtische Klinikum nicht die richtige Einrichtung für Herrn Degen gewesen, die dringend benötigte Herzkatheteruntersuchung war dort nämlich nicht möglich. Aber Rückenschmerzen behandeln, das war auch in dem kleinen Krankenhaus kein Problem. Außerdem war man dort natürlich auch in der Lage einen Herzinfarkt mit Sicherheit auszuschließen, wofür ein Arzt zwei Bluttests benötigt, die im Abstand von 3 Stunden durchgeführt werden müssen. Sollte einer dieser beiden Tests also wider Erwarten positiv ausfallen, so würde ich Herrn Degen schneller wiedersehen, als mir lieb war, denn in so einem Fall bemühte man den Rettungsdienst zusammen mit einem betreuenden Notarzt, um den Patienten in die nächste Klinik zu bringen, in der besagte Herzkatheteruntersuchung durchzuführen war. 

Ich verabreichte Herrn Degen ein Schmerzmittel, für das er mehr als dankbar war, und verabschiedete mich in der Hoffnung den Rest der Nacht ruhen zu können. Herr Degen wurde nicht verlegt. Die Nacht verlief ruhig. Meine Diagnose war richtig. Zum Glück – in allererster Linie für den Patienten. Aber natürlich waren auch wir froh, dass wir in dieser Nacht nicht nochmal ausrücken mussten. 

Vita

geboren 1984, arbeitet Falk Stirkat seit 2010 als Arzt. Seiner anfänglichen Tätigkeit in einer großen chirurgischen Klinik ging das Studium der Humanmedizin an der renommierten Karl-Universität voraus. Es folgten Ausbildungszeiten in Notaufnahme und Intensivstation. Heute arbeitet der Autor als Leiter einer großen Notarztwache. Von seinen Erfahrungen als Notarzt erzählt er in seinen Büchern ich kam, sah und intubierte und 111 Gründe, Arzt zu sein.

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