Mittlerweile bin ich im sechsten Monat meiner geriatrischen Ausbildung und damit halb fertig. Trotz allerlei Anpassungen fällt es mir weiterhin schwer, mich an die Rolle als Assistenzarzt zu gewöhnen – die Hierarchieschmerzen, wie ich sie schon an anderer Stelle genannt habe, sind doch zu deutlich zu spüren.
Wenn zum Beispiel eine Therapie am Patienten durchgeführt wird, der ich kritisch gegenüberstehe, so muss ich sie als Assistent mittragen. Weiterhin scheinen einige der mir übergeordneten Ärzte kritikfreudiger als ich zu sein, und so werden dann nicht nur Therapieentscheidungen, sondern auch Arztbriefe, mein Patient-Arzt-Interaktionsstil und sogar persönliche Dinge wie Kleidungswahl gelegentlich kritisiert.
Nicht alles ist „konstruktive Kritik“ aus meiner Sicht und der indirekte und sehr behutsame Interaktionsstil des Mittleren Westens, in USA oft als „Minnesota nett“ bekannt, fehlt mir in solchen Situationen. Auch die Finanzen sind enger geworden, doch vor allem die Sehnsucht nach Autonomie, nach Rückkehr in eine schöne Landschaft, in welcher der Menschenschlag bodenständig, bescheiden, trotzdem intelligent und umgänglich auf mich wirkt, waren ausschlaggebend als ich kürzlich positiv auf eine Anfrage um Aushilfe in einem Krankenhaus antwortete.
Ob ich nicht eine Woche lang als Krankenhausinternist in ländlicher Gegend in Minnesota arbeiten könne und nach kurzer Rücksprache mit meinem Chef in Tennessee nahm ich mir kurzerhand eine Woche frei. Ich packte mein Auto voll, fuhr die 1.500 km von Nashville gen Norden und arbeite derzeit als Internist während meiner freien Urlaubswoche. Mein Alltag ist der des Krankenhausinternisten: Einige Patienten werden krank aufgenommen, bei einigen anderen wird die Therapie umgestellt bzw. weitergeführt und wiederum andere werden gebessert entlassen.
Das Pflegepersonal kennt mich von vorherigen Einsätzen und ist erfreut mich wieder zu sehen, manche umarmten mich, andere drückten mir kühl reserviert wie auch ich sein kann nur die Hand. Morgens lachen wir gemeinsam über meine lustig gemeinten, aber nicht immer wirklich lustigen Witze, nachmittags tratschen wir bei Kaffee über Patienten, Persönliches oder eben Klatschwürdiges und die allermeisten fragen mich, ob ich nicht einfach hier als Arzt bleiben möchte.
Ich bin selber erstaunt wie glücklich ich über diesen Tapetenwechsel bin. Ist es die Region? Der Menschenschlag? Die Autonomie? Der kollegiale, aber auch liebenswürdige Umgangsstil? Dass ich nicht gefühlt unter Dauerbeschuss als Assistenzarzt stehe? Auch wenn ich zu keiner abschließenden Antwort gekommen bin, so spüre ich doch dieses Glücksgefühl und genieße es. Ich weiß, dass dieser Urlaub, diese 100-Stunden Arbeitswoche, wohl eine der schönsten Urlaube der vergangenen paar Jahre für mich sein wird.
Alle Blog-Beiträge von Dr. Peter Niemann "Vom Arztdasein in Amerika" können hier nachgelesen werden.