Als ich 2017 eine Famulatur in Palästina in einem Kinder-Hospital absolvierte, erlebte ich in diesen vier Wochen exakt zwei Säuglinge, die aufgrund der Folgen einer Pertussis-Infektion eingeliefert worden waren. Ich erinnere mich noch ganz genau an den kleinen Omar, der wegen Hypoxie beatmet werden musste und immer wieder Krampfanfälle hatte – eine Komplikation von Keuchhusten. Die Ärzte bereiteten seine Mutter darauf vor, dass ihr Sohn höchstwahrscheinlich neurologische Schäden davon tragen würde. Über die Zeit erfuhr ich, dass Omars Geschichte keine Ausnahme darstellte. Er hatte keine Grundimmunisierung erhalten, weil präventive Maßnahmen vor allem im Gazastreifen keine Selbstverständlichkeit sind. Ein an Kabeln und Sauerstoff hängendes Baby war das Ergebnis. Es schmerzte zu wissen, dass es Omar unter anderen Umständen besser ergangen wäre.
Die Frage nach der Notwendigkeit einer Impfung ist ja nicht erst seit Corona ein kontroverses Thema. Die Sinnhaftigkeit von Impfungen scheint einige nicht zu überzeugen. Am wenigsten jene, die bisher weder Krankheit, noch Einbußen kennen gelernt haben. Sie ruhen in einem festen Glauben an das eigene Immunsystem. Sie scheinen so viel Urvertrauen in ihr Schicksal zu haben, dass nicht mehr viel Kapazität für Vertrauen in staatliche Vorkehrungen übrig bleibt. Der Körper werde es schon richten. Dafür brauche er den Staat nicht, denn der habe durch Intransparenz seine Glaubwürdigkeit verspielt.
Argumente der Privilegierten
Ich nenne diese Argumente die "Argumente der Privilegierten". Es ist ein Privileg, in einer Gesellschaft leben zu dürfen, in der der Staat Rahmenbedingungen für Vorsorgemedizin geschaffen hat. Es ist ein Privileg, dass einst tödliche Krankheitsverläufe zum großen Teil durch Impfungen ausgemerzt wurden. Es ist ein Privileg, gesund sein zu dürfen. Paradoxerweise trägt leider dieses Privileg dazu bei, dass Bedrohung und Schicksalsschläge für viele eher abstrakte Bilder als gelebte Realität sind und deshalb als nicht bedrohlich empfunden werden.
Ich möchte niemandem die eigene Realität vorwerfen. Wohl denen, die bisher verschont geblieben sind von gesundheitlichen Unannehmlichkeiten. Es sei ihnen von Herzen gegönnt. Gerne möchte ich aber daran erinnern, dass es neben dem eigenen Leben noch zahlreiche andere Leben gibt. Neben dem Ich auch noch andere Ichs. Und diese anderen Ichs machen eigene und auch andere Erfahrungen als ich und alle anderen Ichs. Worauf ich hinaus will? Auf jene Menschen, bei denen es bei der Impffrage um mehr geht als nur um einen Standpunkt. Wegen Krankheit. Wegen Alter. Diese Leute sind unterrepräsentiert in unserer sonnig perfekten Instagram-Welt, in der die gesunden Leiber die Bildschirme schmücken. Sie sind unsichtbar für unsere auf Leistung und Stärke fixierte Gesellschaft.
Für manche geht es um ihr Leben
Meine Patientinnen in der onkologischen Tagesklinik können es sich nicht leisten, Regeln zu umgehen, um Freunde, Nichten, Neffen oder Enkelkinder zu sehen. Sie müssen wirklich zuhause bleiben, weil es keine Alternative gibt. Diese Leute haben leider nicht das Glück, nur genervt zu sein ob der aktuellen Situation. Sie müssen sich um nichts Geringeres sorgen als um ihr Leben. Dafür sind sie neben der Impfung auch auf die sogenannte Herdenimmunität angewiesen.
Es ist eine simple Spielregel, der die Immunisierung folgt: Je mehr Menschen sich impfen lassen, desto geringer die Gefahr der Ansteckung und desto größer der allgemeine Schutz. Ich weiß: Der Begriff „Herdenimmunität“ muss für viele ungemein unattraktiv klingen, die doch Individualismus als gelebte Errungenschaft zelebrieren. „My body is mine“ las ich kürzlich auf den nackten Brüsten einer Frau, die gegen die Corona-Maßnahmen demonstrierte. Eigentlich hatte sie nichts weiter getan, als auf das Selbstbestimmungsrecht in unserem Grundgesetz zu verweisen. Jedoch ist ihr Protest nicht zu Ende gedacht. Bei ansteckenden Erkrankungen geht es längst nicht nur um den eigenen Körper. Es geht um die gesamte Gesellschaft, in der jede(r) Einzelne ein Teil ist und an der doch alle teilhaben. Wir können uns drehen und wenden wie wir wollen: Wir sind und bleiben Akteure einer Gemeinschaft. Und im besten Falle beruht sie auf Solidarität.
Ich erzähle von Omar
Wie also reagiere ich auf Menschen, die die aktuellen Maßnahmen für Unsinn halten oder generell das Impfen als ein fragwürdiges Konzept abtun? Ich erzähle ihnen von meinen Patientinnen, die dankbar sind für jeden Tag, der sich nach Normalität anfühlen darf. Davon, dass ich selbst an Corona erkrankt war und drei Monate danach noch Beschwerden habe. Dass ich meinen Mann aktuell kaum zu Gesicht bekomme, weil er sich als Arzt auf der Corona-Station um Erkrankte kümmert. Und ich erzähle ihnen von Omar … in der Hoffnung, dass Realitäten verschmelzen…